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Recht allgemein Sorgerecht

Triftige Gründe

Triftige Gründe benötigt man, um die Abänderung eines Beschlusses oder eines Vergleiches i.S. §1696 I BGB zu erreichen. Dabei ist der Maßstab strenger als beim Kindeswohl. Oftmals wird für Gerichte und Beschwerdegerichte, um eine schnelle Entscheidung herbeizuführen, verneint, dass triftige Gründe vorliegen. Daher gilt es hier besonnen vorzutragen und typische Fehler bei Abänderungsanträgen zu vermeiden.

Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB

Der Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB ist streng. Er ist strenger als der Maßstab der §§ 1697a oder 1671 BGB.

Es genügt nicht, dass die Neuregelung dem Kindeswohl genügt.

Grüneberg/Götz BGB, 82. Aufl. 2023, BGB § 1696 Rn. 9

Es muss eine Abwägung aller Vor- und Nachteile erfolgen:

Vielmehr müssen im Hinblick auf die gewünschte Stabilität der Lebensverhältnisse des Kindes die Vorteile der angestrebten Neuregelung die mit der Abänderung verbundenen Nachteile deutlich überwiegen (Grüneberg/Götz BGB § 1696 Rn. 9 mit Hinweis auf OLG Hamburg NJW-RR 2021, 197 = FamRZ 2021, 204; OLG Dresden NJOZ 2022, 1027 = FamRZ 2022, 1208).

OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22

Unterschied triftige Gründe und Abwägung bei Sorgerechts- und Umgangsantrag

Bei der Abwägung kommt es auch darauf an, ob man über Sorgerecht oder Umgangsrecht streitet (beachtet: Wechselmodell ist nach wie vor Umgangsregelung!); denn eine solche Abänderung ist schneller auszusprechen, weil die Folgen bei Umgang weniger gravierend sind:

Allerdings sind die Voraussetzungen für eine Modifikation des Umgangs niedriger als bei Entscheidungen zum Sorgerecht, weil die Abänderung einer Umgangsregelung regelmäßig weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes eingreift (OLG Frankfurt a. M. NJOZ 2022, 97 = FamRZ 2022, 362).

OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22

Ausführlicher hierzu das OLG Frankfurt:

Da Umgangsregelungen in besonderem Maß der Anpassungsnotwendigkeit unterliegen (Staudinger/Coester BGB, 2019, § 1696 Rn. 30) ist die Änderungsschwelle für eine Modifikation oder eine Erweiterung des Umgangs niedriger als bei sorgerechtlichen Regelungen anzusetzen. Umgangsregelungen greifen zum einen weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes ein als ein grundsätzlicher Platzierungswechsel. Zum anderen können Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien häufig notwendig werden (Staudinger/Coester BGB § 1696 Rn. 113). Anpassungen an veränderte Umstände können demnach schon dann geboten sein, wenn dies dem Kindeswohl dient (OLG Brandenburg 27.12.2016 – 10 UF 23/16, BeckRS 2016, 124514). Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch Umgangsregelungen eine „gewisse Bestandskraft“ haben, die ohne Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht durchbrochen werden darf (OLG Zweibrücken NJW-RR 1997, 900).

OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 26.10.2021 – 6 UF 147/21

Anpassungen sind der Umgangsregelung immanent; Kinder, Familien, Bedürfnisse ändern sich, weshalb keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Das OLG Frankfurt erwähnt

  • Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien
  • Anpassungen aus dem Kindeswohl heraus

Auch der Kindeswille wird hier eine herausragende Bedeutung haben.

Triftige Gründe

Was sind also nun diese triftigen Gründe? Eine klare Definition wird es nie geben; dazu ist Familienrecht zu einzelfallbezogen.

Als Begründung für die Beschränkung auf triftige Gründe führt der Münchener Kommentar aus;

Obwohl sorge- und umgangsrechtliche Entscheidungen bzw. gerichtlich gebilligte Vergleiche nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, erlaubt Abs.1 keine beliebige Wiederaufnahme des Verfahrens. Zum einen soll das Kind möglichst Erziehungskontinuität erfahren. Zum anderen ist jede Änderung des Eltern-Kind-Verhältnisses ein Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Elternautonomie (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und bedarf deshalb einer Rechtfertigung. Der Gesetzgeber hat sich für eine kontinuierlich am Kindeswohl orientierte Eingriffsmöglichkeit entschieden und bei der Neufassung des Abs. 1 durch das KindRG 1998 die von der Rechtsprechung entwickelte Formel übernommen, wonach die Änderung aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sein muss.

MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 23

Dieser Prüfungsmaßstab wird daher auch „qualifizierte positive Kindeswohlprüfung1“ genannt.

Es muss daher

  • ein Änderungsgrund von solcher Bedeutung vorliegen,2
  • der den Grundsatz der Erziehungskontinuität überwiegt
  • und die mit der Veränderung verbundenen Nachteile für die Entwicklung sowie
  • die Änderung muss am generellen Bedürfnis des Kindes nach Kontinuität und Stabilität seiner Lebens- und Erziehungsbedingungen gemessen werden
  • Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor,
  • Grundlegende Wertungen, die sich aus der Erstentscheidungsnorm ergeben, müssen aber auch im Änderungsverfahren berücksichtigt werden, um einen „unerträglichen“ Wertungswiderspruch zu vermeiden

Das ist wie alle rechtlichen Wertungen erst einmal viel zu berücksichtigen und wenig konkretes. Aber dass das Gericht hier einen Bewertungsspielraum hat, wird man kaum verkennen können.

Der Wille des Kindes alleine hingegen reicht nicht aus3. Auch der Wille eines Elternteils alleine reicht nicht aus4.

EMRK-Konform

Diese Einschränkung des Abänderungsverfahrens ist auch vom EGMR als zulässig bejaht.

Denn das Ziel dieser erheblichen Einschränkung der Abänderungsmöglichkeit, Kinder vor fortwährenden Sorgerechtsverfahren zu schützen, ist zulässig i.S. der EMRK:

Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass § 1696 BGB u. a. zum Ziel hat, Kinder vor fortwäh­renden Sorgerechtsverfahren zu schützen und für eine stabile und dauerhafte Sorgesituation zu sorgen. Er ist somit auf das legitime Ziel gerichtet, die „Gesundheit“ und die „Rechte und Freiheiten anderer“ zu schützen.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Innerstaatliche Behörden haben insoweit einen erheblichen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf Art. 8 EMRK:

Aus diesen Erwägungen und im Hinblick auf den großen Beurteilungsspielraum der inner­staatlichen Behörden bei Sorgerechtsentscheidungen (vgl. u. a. S., a. a. O., Rdnrn. 64-65) ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der innerstaatlichen Gerichte angemessen und hinreichend begründet war und dem Beschwerdeführer somit den erforder­lichen Schutz seines Rechts auf Achtung seines Familienlebens zuteil werden ließ.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Folglich ist Artikel 8 der Konvention im Fall Enke gegen Deutschland nicht verletzt worden.

2. Unter Berufung auf die Artikel 6 und 14 rügte der Beschwerdeführer ferner, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte zu einer Ungleichbehandlung der Elternteile ge­führt habe.

Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die ge­rügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Das führt natürlich noch zu mehr Unsicherheit und damit zu mehr Begründungsaufwand für Euch.

Einzelfälle

In der gängigen Literatur gibt es Listen mit Einzelfällen; diese können Eure Anwälte heranziehen; wichtig ist aber nach wie vor die Herausarbeitung der Änderungen für die Kinder und die Bedeutung auf deren Entwicklung.

Die folgende Liste ist nicht abschließend5:

  • der erfolgreiche Abschluss einer Familientherapie (AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg FamRZ 2004, 134, im konkreten Fall allerdings ein Anwendungsfall von Abs. 2),
  • eine wiederholte Verletzung des Kindesrechts auf gewaltfreie Erziehung (OLG Jena FamRZ 2005, 52 (53)),
  • die Uneinsichtigkeit des Sorgeberechtigten bei der Ernährung des noch nicht schulpflichtigen Kindes sowie die mangelnde Befolgung ärztlicher Anordnungen über die medikamentöse Behandlung (KG NJW-RR 1990, 716) oder sonstiger medizinisch indizierter Maßnahmen (OLG Hamm FamRZ 1979, 855),
  • ein grenzenloses Omnipotenzverhalten des Sorgeberechtigten, das den Kindern keine Chance zu eigenständiger Entwicklung lässt (OLG Frankfurt FamRZ 2005, 1700),
  • eine ansteckende Krankheit des Sorgeberechtigten (OLG Hamm ZBlJR 1955, 138 (139)),
  • unkontrollierte Drogen- und Alkoholabhängigkeit (OLG Naumburg OLGR 2009, 209 = FamRZ 2009, 433 Ls.),
  • psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile (AG Flensburg BeckRS 2018, 44237 Rn. 13 ff.; zur wachsenden Erziehungsfähigkeit eines Elternteils bei sich stabilisierendem psychischen Zustand OLG Brandenburg BeckRS 2020, 22435 Rn. 25),
  • schulische Gründe (OLG Brandenburg FamRZ 2014, 1859: fehlende Unterrichtsmaterialien aufgrund wechselnden Umgangs; OLG Saarbrücken FamRZ 2012, 646: Einschulung),
  • eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Umgangspflegerin mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie (AG Frankfurt FamRZ 2020, 839 (840) = JAmt 2020, 266),
  • die Ansteckungsgefahr von Kindern in Kindertagesstätten während der Covid-19-Pandemie (AG München FamRZ 2020, 1178 mAnm Rake).

Was hier vor allem fehlt ist aber auch eine nicht realisierte Hoffnung aus einem familienpsychologischen Gutachten oder realisierte Bedenken aus einem familienpsychologischen Gutachten. Auch Indizien für die Belastung des Kindes, andauernde Manipulation und ähnliches kann einen solchen triftigen Grund darstellen.

Gerne könnt Ihr Euch in der Hotline des Vereins Erzengel kostenfrei beraten lassen zu diesem Thema:

  1. MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 24, 25 ↩︎
  2. MüKo aaO ↩︎
  3. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1696 Rn. 16-18 ↩︎
  4. OLG Hamm FPR 2002, 270 ↩︎
  5. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1696 Rn. 19-29 ↩︎
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Sorgerecht

Was ist Gatekeeping?

Gatekeeping wird häufig definiert als „Einstellungen und Verhaltensweisen eines Elternteils, die den Zugang des anderen Elternteils zum Kind regulieren, kann Gatekeeping Kontakt einschränken oder fordern“ (zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023).

Gatekeeping kann schädlich sein

Es wird daher manchmal vom „restriktiven“ und „facilitiativen“ Gatekeeping gesprochen .“

für eine Forschungsubersicht s. Schoppe-Sullivan/AltenburgerSchoppe-Sullivan/Altenburger, 2019

Gatekeeping ist also das, was oft auch als „Helicoptern“ bezeichnet wird: Überfürsorgliches Verhalten, das andere ausschließt und damit dem Kind schaden zufügen kann. Doch wie geht man in einer solchen Situation um?

Gatekeeping: Sachverhalt eruieren.

Beim Gatekeeping ist es zuvörderst wichtig, dass man den Sachverhalt ordentlich klärt – was gem. §26 FamFG im Verfahren Aufgabe des Richters wäre, der aber insoweit keine pädagogische-psychologische Ausbildung hat.

„Insgesamt begegnen den Fachkräften und Gerichten in Fällen mit ausgeprägtem mütterlichen Gatekeeping sowohl gut verborgene, aber reale Gefahren durch Umgang als auch stark verzerrte Wahrnehmungen. Daher
ist es unabdingbar, beide Möglichkeiten präsent zu halten, den Sachverhalt so gut wie möglich aufzuklären und die resultierenden Hinweise abzuwägen.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Konklusion: Nicht alles, was ein Elternteil erkennt oder bemängelt, muss real sein. Es gibt stark verzerrte Wahrnehmungen.

Gatekeeping führt zu stark verzerrter Wahrnehmung und muss daher Anlass des Gerichtes sein, nachzuforschen

Michael Langhans, Volljurist

Damit wird aber wie so oft der Finger in die Wunde gelegt: Man muss das Problem sehen wollen. Oftmals stellt sich aber in Verfahren dar, dass nur ein entfremdeter Elternteil negatives Gatekeeping bemerkt, die anderen nicht.

Gatekeeping: Lösungsansatze beim Umgang begehrenden Elternteil

Es verwundert ein wenig, aber selbst der, der Umgang wünscht, kann versuchen den anderen Elternteil positiv zu beeinflussen: Indem man diesen Teilhaben lässt.

„Zum anderen kann die Irritierbarkeit des Vertrauens in die Fürsorgekompetenz und Zuverlässigkeit des Vaters vermindert werden, wenn Absprachen eingehalten und Fotos bzw. Videos das Wohlergehen des Kindes beim Umgang dokumentieren. Dem verständlichen Wunsch von Vätern nach Abschottung der eigenen Zeit mit dem Kind nachzugeben, wirkt in diesen Fällen kontraproduktiv. „

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Vertrauen geben statt einfordern, so würde ich das zusammenfassen. Umgang muss nicht geheim erfolgen, sollte dann aber auch, wenn er stattfindet und dies kommuniziert wird und Bilder geteilt werden nicht zu einer kleinkarierten Kritik des anderen Elternteils führen.

Kompetenzbesserung des Umgangsgewährenden Elternteils hilft

Daher finde ich es gut, dass das Expertenteam um Fichtner, Kindler und Walper auch eine Kompetenzverbesserung des umganggewährenden Elternteils fordert.

„Unsicherheiten und Ängste von Müttern in der Elternrolle können das Bedürfnis nach Kontrolle über enge Beziehungen des Kindes verstärken, weshalb in der Jugendhilfe ein Zugang, der die Kompetenzen von Müttern
betont und fordert, prinzipiell auch Vater-Kind-Kontakten dient.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Jetzt muss man natürlich anmerken, dass Kompetenzverbesserung nicht heisst, dass der Elternteil vorher unfähig war. Jeder von uns kann noch besser werden. Einen Lösungsansatz, der beide Eltern verpflichtet, ist sicherlich einem einseitig kritisierenden vorzuziehen, um keine „Gewinner“ und „Verlierer“ zu gerieren.

Gatekeeping kann zu Kontaktproblemen führen

Unabhängig davon kann Gatekeeping also zu Entfremdung, Kontaktproblemen und Kontaktabbruch führen. Wie man dann vorgeht, habe ich in diesem Artikel beschrieben:

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Sorgerecht

Wie geht man bei Entfremdung / Kontaktproblemen vor

Auch wenn die Thematik rund um Gardener/PAS/EKE alt und immer wieder am diskutieren ist, wird von keinem Experten ernstlich in Frage gestellt, dass es Kontaktprobleme zwischen Elternteil und Kind geben kann. Doch wie gehe ich bei Entfremdung vor? Wie gehe ich mit Kontaktproblemen um?

Ob man in diesem Zusammenhang lieber der Vorgehensweise von Baumann, Michel-Biegel, Rücker und Serafin, Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung in der ZKJ oder derjenigen von Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ebenfalls in der ZKJ folgen möchte, spielt dabei erst einmal keine Rolle. Wichtig ist, dass beide Meinungen Lösungsansätze darbieten. Ich selbst präferiere die erstere Vorgehensweise der Intervention:

Lösungsansatz 1: Schnelle Kontaktregelungen

  • Schnelle vorläufige Festlegung bindungserhaltender Kontaktregelungen
  • Hinführung zur Praxis paralleler Elternschaft
  • Verpflichtung der Eltern zur Teilnahme an psychologischer Beratung
  • Psychologischer und praktischer Beistand fur das betroffene Kind
zitiert nach Baumann, Michel-Biegel, Rücker und Serafin, Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung in ZKJ 7/22

Vorteil: Diese Lösung basiert auf bisherigen Hilfsangeboten und ist daher flächendeckend umsetzbar.

Michael Langhans, Volljurist

Die Gegenmeinung von Zimmermann et al. echauffiert sich sehr über die Schlüsse von Rücker und anderen, nutzt statt Entfremdung lieber den Begriff Kontaktprobleme, kommt aber auch zum Ergebnis, dass man einiges erst einmal herausarbeiten muss und insoweit die Ursachen der Kontaktprobleme diagnostisch bearbeiten muss:

Lösungsansatz 2: Diagnostik

„Erhoben werden sollen also Befunde insbesondere zu (a) Art und Austragungsform elterlicher Konflikte, einschließlich des Einbezugs des Kindes,
(b) Geschichte und Situation der elterlichen Zusammenarbeit (Co-Parenting),
(c) Art und Hintergründe der wechselseitigen Wahrnehmung beider Elternteile,
(d) Erleben und Umgangsweise beider Elternteile mit dem Verlauf der Trennung und der Aufgabe einer Neuorientierung für sich und das Kind,
(e) Geschichte und gegenwärtige Qualität der Beziehungen des Kindes zu jedem Elternteil,
(f) Belastung und Bewältigungsfähigkeiten des Kindes sowie die kindliche Wahrnehmung elterlicher Erwartungen und eigener Interessen,
(g) weitere Einflüsse von Geschwistern, Familienangehörigen und Fachkräften auf die Dynamik im Konfliktfall sowie
(h) Lösungsvorstellungen von Eltern und Kind.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Der Zweite Ansatz ist zu fachspezifisch, damit wird die Entscheidungsfindung wieder zu sehr in die Hände von Psychologen gelegt, von deren Qualität hängt damit auch ab, ob und wie es weitergeht.

Lösungsansatz 1 gibt dem Juristen umsetzbares Vorgehen an die Hand. Er ist zu präferieren.

Michael Langhans, Sorgerechtsexperte

Auch wenn es lobenswert ist, die Grundlagen eines Verhaltens zu verstehen, befürchte ich dass damit der Manipulation Tür und Tor geöffnet ist. Denn mit falschen oder unzureichenden Antworten kann man hier das Ergebnis beeinflussen.

Überhaupt wird doch aktuell in Verfahren zu sehr diskutiert und zu wenig gehandelt, wo doch Zeit ein wesentlicher Faktor ist.

Kinder wollen zu Umgang verpflichtet werden

Bekanntermaßen hat Dettenborn bereits vor langer Zeit klargestellt, dass auch Kinder bisweilen froh sind, zu Umgang „gezwungen“ zu werden, insbesondere wenn Entfremder am Werk sind.

„Das Kind ist eventuell froh, durch die Aufforderung zum Kontakt aus der Unentschlossenheit geholt zu werden. Das schließt Proteste gegen den Sozialarbeiter oder Richter, der Kontakt angeordnet hat, nicht aus. Sie sind meist eine Information an den manipulierenden Elternteil: Ich bin gezwungen zu gehen, es ist nicht meine Schuld.“

zitiert nach Harry Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 6. Auflage 2021, S. 118

Daher fußt Lösungsansatz 1 doch nur in dieser alten Weisheit, wie sie Dettenborn zu Papier gebracht hat. Daran ändert dann auch nicht, dass Kindler und Co. zu Recht darauf hinweist, dass das Helfersystem in der Hochkonflikthaftigkeit an ihre Grenzen stößt:

Es gibt zu wenig echte Angebote

„Schließlich stimmen wir zu, dass Hilfeangebote in geeigneten Fällen meist bei der Hochkonflikthaftigkeit der Eltern ansetzen müssen und neben den Chancen auch die Grenzen des Hinwirkens auf elterliches
Einvernehmen erkannt werden müssen.
(…)
Allerdings stellt die Hochkonflikthaftigkeit Fachkräfte der Trennungsberatung, wie eine aktuelle Umfrage zeigt ( Kindler/Eppinger, 2022), weiterhin häufig vor erhebliche Herausforderungen. Deshalb ist es nötig, spezialisierte Beratungs- und Hilfekonzepte für hochkonflikthafte Eltern, die sich als wirksam erwiesen haben (z.B. Retz , 2015; Visser/van Lawick, 2021), stärker zu fördern und flächendeckend auszurollen.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Statt also darauf hinzuweisen, dass man flächendeckendere Hilfekonzepte benötigt, ist es m.E. wichtig, diese Hilfe darzutun; und deshalb finde ich die Lösungsansätze 1 verbindlicher. Sie sind ein pragmatischer Ansatz, der mit den bisherigen Angeboten umsetzbar ist und damit eine Lösungsmöglichkeit sein könnte. Denn Zeit, bis Beratungsangebote ausgerollt sind und dann dem Jurist bekannt sind, spielt nur dem in die Hände, der keine Lösung möchte. Mit den oben dargelegten Handreichungen kann man jedenfalls bei Entfremdung vorgehen.

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Die Angst des Kindes vor einem Elternteil

Ich bin heute über eine Aussage des Amtsgerichts Wangen zu einer wunderbaren Entscheidung des Obergericht des Kantons Zürich gestolpert, die zur Angst des Kindes vor einem Elternteil auf die denkbar emphatischste Art und Weise eingeht (samt einer eloquenten Belesenheit), die man sich in vielen Verfahren wünscht und die man so selten nur erhält. Das Obergericht nimmt nämlich als Metapher für die Angst Herrn TurTur, den Scheinriesen, als Beispiel. Herr Tur Tur ist eine Figur aus Michael Endes Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer.

Ich darf also Herrn Tur Tur vorstellen im genialen Verfilmungsoriginal „meiner“ Augsburger Puppenkiste:

Was ist ein Scheinriese

Herr Tur Tur ist ein Scheinriese, also ein normalgroßer Mensch, der auf Distanz als Riese erscheint, je näher man ihn betrachtet, desto kleiner wird er, bis er ein normaler, liebenswerter, aber einsamer Mensch ist.

Die Geschichte des Scheinriesen kann – je nach Alter – zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung führen. Während Kinder ihn direkt „als armen Kerl wahr[nehmen], mit dem man Mitleid haben muss“, der Mitgefühl erzeugt, assoziieren Erwachsene eher realitätsnah: „Für sie steht der Scheinriese für die Neigung des Menschen, sich und andere über seine wahre Bedeutung zu täuschen“.

Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Scheinriese

Der Scheinriese als Metapher für die Angst

Insoweit liegt es so nahe, diese Metapher für die Angst zu nutzen. Angst vor dem Unbekannten. Und das hat das Obergericht in Zürich erkannt und dies als wunderbares Beispiel genommen:

„Angst muss ernst genommen werden; sie zu überwinden, kostet Anstrengung und braucht auch Mut. Aber nur wer Angst aktiv
angeht, vermag sie zu überwinden, oder erkennt, dass sie unbegründet gewesen ist. Die Figur des Scheinriesen „Herr Tur Tur“ aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ veranschaulicht dieses Phänomen hervorragend:
Je weiter entfernt „Herr Tur Tur“ ist, umso bedrohlicher erscheint er; nur wer sich ihm nähert, erkennt, dass er kein Riese ist. Gino kann seine Angst vor seinem Vater nur überwinden, wenn er mit ihm in Kontakt tritt und erfährt, dass sein Vater kein Monster und kein Dämon ist und ihm keine Vorwürfe macht. Nur wenn Gino erfahren darf, dass sein Vater ein „gewöhnlicher“ Mann ist mit Stärken und Schwächen, Vorzügen und allenfalls unangenehm empfundenen Eigenheiten, wird er seinen väterlichen Anteil an seinem eigenen Wesen akzeptieren lernen.“

Obergericht Kanton Zürich PQ190029-O/U vom 02.09.2019

Ein wunderbares Beispiel, das auch als Kritik an Eltern und Juristen in Verfahren verstanden werden kann, deren Verhalten aus kleinen Dingen riesige Monster aus Kindersicht erscheinen lassen – als Scheinmonster wie Herrn Tur Tur. Nur wer die Macht hat, sich auf die Angst einzulassen und sich dem Riesen nähert, hat eine Chance zu erkennen dass hinter dem Riesen ein normaler, wenn auch einsamer Mensch steckt.

Ich habe, ehrlicherweise, nie etwas emphatischeres in einem Beschluss gelesen. Und irgendwie wundere ich mich nicht, dass es kein deutsches Gericht war, das diese Idee herangezogen hat.

Idee des Amtsgerichts Wangen

Das Amtsgericht hat die Idee des Scheinriesen adaptiert und eine „Auflage“ formuliert, dass ein Elternteil dem Kind das Buch schenkt mit der Widmung und Mitteilung, der andere Elternteil solle dies (gemeinsam mit dem Kind) vorlesen. Eine einfache, geniale und richtige Idee, die ich hier gern weitergebe in der Hoffnung, der eine oder andere von Euch zieht hieraus Vorteile für sein Verfahren.

Und natürlich ist diese Metapher nicht nur eine Hilfe bei Entfremdung, sondern bei vielen Ängsten. Wenn wir alle ein wenig über den Tellerrand blicken wollen, wird die Welt sicher besser.

Das Buch könnt ihr übrigends hier besorgen.

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Elternwohl

Gibt es einen Fachterminus des Elternwohl? Gesetzlich gibt es im Familienrecht und Kindschaftsrecht nur das Kindeswohl. Doch immer wieder liest man in Gutachten auch, dass das Wohl eines Elternteils durch eine Änderung der Rechtslage (Herausnahme, Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den anderen Elternteil übertragen usw.) beeinträchtigt sein soll. Dies ist falsch.

Elternwohl

Insbesondere wenn an einem Gutachten nicht alle beiden Eltern teilnehmen, sondern nur ein betroffener Elternteil exploriert wird, besteht die Gefahr, dass man zu sehr auf diesen einen Elternteil abstellt (Ventzlaff/Foerster, S. 683, rechtse Spalte). Es kommt aber nicht darauf an, ob ein Elternteil besonders belastet oder gar geschädigt wird.

Elternwohl beeinflusst aber Kinder

Zurecht weist Ventzlaff/Foerster aber auch darauf hin, dass natürlich eine Konnexität des Wohles der Eltern mit den Kindern besteht. Wir alle kennen den flapsigen Spruch „Happy Wife, Happy Life.“ Genau so ist es aber bei Kindern. Wenn es den Eltern gut geht, geht es auch den Kindern gut. Kinder, die sich Sorgen machen um die Eltern, sind beeinträchtigt und werden auch dadurch geschädigt. Ich erlebe immer wieder, dass das Jugendamt eine Herausnahme mit einer „Krankheit“ von einem Elternteil begründet. Diese meist falsche Aussage ist jedenfalls immer eine Kindeswohlgefährdung.

Beeinflussung durch Elternwohl aber auch negativ

Freilich muss auch berücksichtigt werden, dass die Belastung aus einer krankhaften Situation auch das Kind belastet, weil Verantwortungen auf ein Kind übertragen werden, die da eigentlich nicht hingehören. Die Aussage von Rita Süßmuth im Tagesspiegel 2008 „Kindeswohl und Elternwohl sind eine Einheit“ ist daher überwiegend richtig, wenn auch in rechtlicher Hinsicht das Elternwohl zurückzutreten hat.

Eine Erziehung zu fordern, die sich auf wenige Aufgaben beschränkt und dabei das Schädliche vermeidet und die das Elternwohl dem Kindeswohl nicht unterordnet, wie es die NZZ 2022 getan hat, reicht daher in rechtlicher Hinsicht nicht aus.

Hier sehen wir aber auch ein Problem: Das Rechtliche stößt mit dem Pädagogischen zusammmen. Wo es grundsätzlich nicht die eine Wahrheit (im Erziehungssinn) gibt, gibt es nur einen Begriff Kindeswohl.

Elternwohl und Jugendamt

In rechtlicher Hinsicht sollte man also im Verfahren das Elternwohl insoweit einfordern, als dass eine Nichtbeachtung den Kindern schadet. Das gilt für alle §8a SGB VIII Meldungen, aber auch für Beschlüsse der Gerichte. Diese nehmen schon regelmäßig nicht mehr Bezug auf die negativen Auswirkungen einer Herausnahme. Noch seltener wird auf die Wechselwirkung Eltern- und Kindeswohl abgestellt. Daher ist dies ein wesentlicher Aspekt, auf den wir eingehen sollten und Argumente des Gerichts einfordern.

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Sachverhaltsaufklärung auch bei einstweiliger Anordnung

Sachverhaltsaufklärung muss auch bei einstweiligen Anordnungen erfolgen. Der Nachweismaßstab mag verringert sein, keine Abklärung ist aber keine Lösung. Denn der Amtermittlungsgrundsatz sowie der Eingriff in Grundrechte sowie die Personensorge als erhebliche Eingriffe sind nur dann zulässig, wenn auch im summarischen (vorläufigen) Verfahren eine möglichst intensive Sachverhaltsaufklärung stattfindet.

Möglichst intensive Sachverhaltsaufklärung

Es muss auch im Eilverfahren eine Sachverhaltsaufklärung stattfinden. Dazu führt das BVerfG in 1 BvR 1202/17 aus:

Im Eilverfahren bemessen sich die Möglichkeiten des Gerichts, das Sorgerecht ohne abschließende Ermittlung des Sachverhalts zu entziehen, einerseits nach dem Recht des Kindes (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG), durch die staatliche Gemeinschaft vor nachhaltigen Gefahren geschützt zu werden, und andererseits insbesondere nach dem Recht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), von einem unberechtigten Sorgerechtsentzug verschont zu bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 -, juris, Rn. 22). Weil bereits der vorläufige Entzug der gesamten Personensorge einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der Eltern darstellt, sind grundsätzlich auch bei einer Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen. Soll das Sorgerecht vorläufig entzogen werden, sind die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 -, juris, Rn. 23).

BVerfG 1 BvR 1202/17

Zuzumuten sind insbesondere persönliche Anhörungen, Befragung Fachkräfte und Verfahrensbeistand (Rn.25 BVerfG aaO).

Die Ernsthaftigkeit einer Aussage ist zudem zu prüfen (Rn. 25.)

Dabei ist der Grundsatz der, dass das Gericht nachpflichtgemäßem Ermessen entscheiden, gleichzeitig aber beachten muss, dass das Vorgehen auch geeignet ist, eine zuverlässige Grundlage für die Entscheidung zu erlangen. Das ist die Basis der Sachverhaltsaufklärung.

Das Gericht hat von sich aus – nach pflichtgemäßem Ermessen – die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und durchzuführen sowie die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen. Allerdings bestimmt das Fachgericht zugleich – auch in kindschaftsrechtlichen Verfahren – selbst über den Umfang seiner Ermittlungen (vgl. BVerfGE 79, 51 <62>). Das Verfahren muss aber grundsätzlich dazu geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182 f.>).

BVerfG aaO Rn. 28

Sachverhaltsaufklärung nicht bei sofortigem Tätigwerden

Wenn aber ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht, kann eine unzureichende Sachverhaltsermittlung unbedenklich sein:

Die unzureichende Ausermittlung des Sachverhaltes war auch nicht deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich, weil ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden bestanden hätte (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. August 2015 – 1 BvR 1084/15 -, juris, Rn. 25). 

BVerfG aaO, Rn. 27

Abklärung der Gefährdungslage

Das Oberlandesgericht Hamm führt zur Abklärung der Gefährdungslage ergänzend aus:

Entscheidend ist, ob die Gefährdungslage nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse bereits derart verdichtet ist, dass ein sofortiges Einschreiten auch ohne weitere gerichtliche Ermittlungen geboten ist.

OLG Hamm, 13 UF 71/18

Da die Gefährdung des Kindes Voraussetzung ist, muss eine solche mit ziemlicher Sicherheit vorausgesagt werden können, was bedeutet, hierzu muss es Fakten geben:

Materiell-rechtlich ist eine Gefährdung des Kindes als Voraussetzung für dessen räumliche Trennung von den Eltern gemäß Art. 6 Abs. 3 GG auch im einstweiligen Anordnungsverfahren grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.

OLG Hamm, 13 UF 71/18

Bedeutung der Sachverhaltsaufklärung

Die Sachverhaltsaufklärung ist daher elementar auch im einstweiligen Anordnungsverfahren.

Für Euch bedeutet das, möglichst viele Beweismittel schriftlich dem Gericht vorzulegen. Eidesstattliche Versicherung, Beobachtungen, Einlassungen. Je mehr Beweisermittlungen Ihr anregt, desto weniger kann von Seiten der Gerichte einfach so entschieden werden.

Wenn Ermittlungen möglich sind, sind diese durchzuführen. Nur selten wird hingegen die Gefahr so groß sein, dass man hierauf verzichten kann.

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Der Kindeswille

Der Kindeswille umfasst in familiengerichtlichen Verfahren die Wünsche, Bedürfnisse, Befürchtungen und Anliegen eines konkreten Kindes (vgl. Salzgeber Rn. 1100). Er ist eines der wesentlichen Kriterien, die ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten hinterfragen muss. Er ist neben psychischer Belastung von Eltern und weiteren Gefahren (Substanzmittelmissbrauch) ein wesentliches Kriterium (Salzgeber aaO).

Beachtlicher Kindeswille

Dabei muss der Wille in rechtlicher Hinsicht beachtlich sein, also auf subjektiven nachvollziehbaren Aspekten beruhen. Ernsthaft sind solche Willenskundgaben, wenn sie begründet werden oder in Anwesenheit des Elternteils, das abgelehnt wird, vorgebracht werden (OLG Düsseldorf in FamRZ 1988,1193).

Der Wille des Kindes gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Er ist Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Kindes, das diese haben (vgl. TAZ) und tritt mit zunehmendem Alter immer stärker in denn Vordergrund. Mit der Verfahrensmündigkeit einerseits ab 14 Jahren ist dies gesetzlich anerkannt (vgl. Haufe):

Das Kind, dass das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist in Verfahren, die seine Person betreffen und in denen es ein ihm nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend macht, hingegen verfahrensfähig. Davon sind die Verfahren nach § 1671 BGB erfasst, sobald der andere Elternteil der Sorgerechtsübertragung zustimmt, denn ab dann steht dem Kind das Widerspruchsrecht nach § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu. Auch Verfahren nach § 1684 Abs. 1 BGB gehören dazu (eigenes Recht des Kindes auf Umgang), nicht hingegen solche nach § 1685 oder § 1686a BGB, die nur der engen Bezugsperson bzw. dem leiblichen, nicht rechtlichen Vater, nicht aber dem Kind ein eigenes Recht auf Umgang einräumen. Gleiches gilt für Verfahren nach § 1632 Abs. 1 und 4, § 1666, § 1674 BGB. Allerdings sind Verfahren erfasst, in denen Maßnahmen nach § 1684 Abs. 4 BGB in Rede stehen. Denn auch in diesem Verfahren wird das eigene Umgangsrecht des Kindes aus § 1684 Abs. 1 BGB ggf. beschränkt und mithin geregelt, nicht anders als bei der – ebenfalls erfassten – Anordnung einer Umgangspflegschaft nach § 1684 Abs. 3 S. 3 BGB. Dementsprechend sprechen die Gesetzesmaterialien von der eigenständigen Wahrnehmung „materieller“ Rechte des Kindes.

Haufe aaO

BVerfG zum Kindeswillen

Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus:

Sorgerechtsentscheidungen müssen danach den Willen des Kindes einbeziehen. Die Grundrechte des Kindes gebieten, bei der gerichtlichen Sorgerechtsregelung den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). 

BVerfG 1 BvR 1750/21 -, Rn. 1-32

Eigenständige Rechtswahrnehmung und Kindeswille

Die eigenständige Wahrnehmung der Rechte durch das Kind wie Teilnahme an der Verhandlung spielt hierbei eine wesentliche Rolle und verdeutlicht die Wichtigkeit des Willens des Kindes. Andererseits ist der Kindeswille auch Ausdruck seiner Personenbindung und Folge von Erfahrungen (Salzgeber Rn. 1101).

Umgang gegen den Willen eines Kindes kann man nicht erzwingen (OLG Brandenburg, BeckRS 2009, 29314).

Fragen zum Kindeswille

Ist der Kindeswille zu berücksichtigen?

Der Kindeswille ist zu berücksichtigen, soweit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.

Darf das Kind aufgrund seines Kindeswillens Sorgerechtsentscheidungen treffen?

Entscheidungen treffen Eltern, nicht Kinder. Diese den Kindern aufzuerlegen würde die Kinder unnötig belasten und diesen daher Schaden zufügen.

Ab welchem Alter ist ein Kindeswille stets beachtbar?

Es gibt keine gesetzlichen oder psychologischen starren Altersgrenzen. Es kommt auf den Einzelfall an.

Ab welchem Alter kommt dem Kindeswille eine stärkere Bedeutung zu?

Ab 8 bis 12 Jahren hat die Rechtsprechung für den Kindeswillen eine stärkere Bedeutung zugebilligt, z.B. OLG Düsseldorf FamRZ 1999, 950, OLG Brandenburg FamRZ 2011, 121 , 2008, 1472, 2015, 1304, OLG Hamm NZFam 2016, 765

Ist der Kindeswille manipulierbar?

Grundsätzlich ja, indem Eigeninteressen der Eltern durchzusetzen versucht werden.

Lügen Kinder häufiger oder sind diese einfach zu manipulieren?

Hierfür gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse (vgl. Salzgeber Rn. 1103).

Haben auch kleine Kinder einen Willen?

Auch drei- bis vierjährige haben einen eigenen Willen. Diese können einen stabilen Willen haben, der aber unzuverlässiger und umgebungsabhängiger ist als bei älteren Kindern.

Wie erkennt man einen manipulierten Kindeswillen?

Ein manipulierter Kindeswille ist ein Wille, bei dem Eltern die Stimme des Kindes nutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, entweder dass eigene Aussagen in das Kind gelegt werden oder dass ehrliche Äußerungen des Kindes verhindert, überwacht und kontrolliert werden (Salzgeber aaO).

Ein beeinflusster Kindeswille gibt also nicht mehr den Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes des Kindes und eigene Erfahrungen des Kindes wieder, sondern aufgrund eigensüchtiger Einflussnahme von Verwandten entstandene Aussagen.

Auch ein manipulierter Wille ist beachtlich.

BVerfG FamRZ 2001, 1057

Manipulierte Kindeswillen zu erkennen ist dabei Aufgabe des familienpsychologischen Gutachtens. Aber auch der Verfahrensbeistand soll den Willen des Kindes eruieren und diesem vor Gericht Geltung bringen. Wenn der Wille allerdings nicht mehr die tatsächlichen Realitäten von Bindung und mehr wiedergibt, kann ein manipulierter Wille unbeachtlich werden.

Wann ist der Wille eines Kindes beachtlich?

Der Wille des Kindes ist immer beachtlich, wenn das Kind die eigene Situation erkennt und trotz äußerer Einflüsse eine eigene Meinung bilden kann (Salzgeber Rn. 1107).

Das Vorliegen eines kindlichen Willens ergibt sich aus den folgenden Kriterien:

  • Zielorientierung, also Absicht etwas zu erreichen, einen Zielzustand
  • Nachdrücklich und beharrliche, entschlossene Entschiedenheit
  • Stabilität und Konstanz
  • Autonome Entscheidung

Hierzu mehr in Salzgeber Rn. 1107. Die obigen Ausführungen finden sich hierin wieder. Denn eine Zielorientierung liegt nicht vor, wenn eine Begründung nicht gegeben werden kann. Autonomie liegt nicht vor, wenn äußere Umstände die Situation beeinflussen (Eltern, Heim usw.).

Dabei ist gerade im Hinblick auf Nachdrücklichkeit und Stabilität wichtig, dass man sich rechzeitig um die Dokumentation des Kindeswillens kümmert. In Heimunterbringungen wird nicht jeder Wille weitergeleitet, den ein Kind äußert.

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Sorgerecht

Geschwisterkinder trennen

In staatlicher Obhut kommt es immer wieder vor, Geschwisterkinder zu trennen. Was viele Ämter und Gerichte nicht wissen: Das widerspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Wortlaut Art. 8 EMRK und Eingriffe hierin

Art. 8 „Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ lautet in Absatz 1:

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

Art. 8 EMRK

Unstreitig wird bei gerichtlichen Maßnahmen oder bei Inobhutnahmen hierin eingegriffen (vgl. Johansen gegen Norwegen, Urteil von 1996). Es muss immer auf den Einzelfall abgestellt werden, insbesondere müssen aber immer die Interessen des Kindes berücksichtigt sein (vgl. Wetjen u.a. gegen Deutschland, Urteil vom 2018). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt insoweit den Behörden einen weiten Spielraum (vgl. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK), spätere Eingriffe nach dem Erstkontakt sind hingegen schwerer zu bewerten.

Verbot, familiäre Beziehungen faktisch zu verunmöglichen

Aus Art. 8 EMRK ist daher nicht nur die Pflicht des Staates, eine Zusammenführung der Familien durch Rückführung zu fördern, zu sehen (vgl. Jansen gegen Norwegen). Dies ergibt sich vorallem aus dem Fall Olsson gegen Schweden.

Insbesondere kann zwar eine Herausnahme gerechtfertigt sein und eine Entscheidung eines Gerichtes zulässig und angemessen:

Demzufolge kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der angefochtenen Entscheidung „ausreichende“ Gründe zugrunde liegen; in Anbetracht des ihnen zustehenden Beurteilungsspielraums waren die schwedischen Behörden zu der Annahme berechtigt, dass es notwenig war, die Kinder in Obhut zu nehmen, insbesondere nachdem vorbeugende Maßnahmen sich als nicht erfolgreich erwiesen hatten.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 74

Dies bedeutet aber nicht, dass nicht durch die weiteren Maßnahmen das Kind in seinen Rechten verletzt wird. Kurz hat das der EGMR formuliert wie folgt:

Im Ergebnis verletzt die Durchführung der Entscheidung, die Kinder in
Obhut zu nehmen, Art. 8 – nicht jedoch diese Entscheidung selbst und auch nicht die Tatsache, dass sie nicht aufgehoben wurde.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 84

Durchführung der Entscheidung bei Geschwisterkinder Trennung verletzt EMRK

Doch die Art, wie die Entscheidung umgesetzt wurde, insbesondere Kinder zu trennen, verletzt Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):

Nach Auffassung der Bf. gab auch die Durchführung der Entscheidung über die Obhut Anlass zu einer Verletzung von Art. 8. Sie berufen sich u.a.
auf die Unterbringung der Kinder getrennt und in großer Entfernung voneinander und von ihren Eltern, auf die Einschränkungen und Bedingungen für Besuche und die Verhältnisse in den Familien, in denen die Kinder untergebracht waren.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 78

Dem tritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit deutlichen Worten entgegen:

Die erwähnte Entscheidung musste deshalb als vorläufige und, sobald es die Umstände erlaubten, aufzuhebende Maßnahme angesehen werden; und jeder zu ihrer Durchführung unternommene Schritt hatte im Einklang mit dem letztendlichen Ziel der Zusammenführung der Familie Olsson zu stehen.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 81

Rückführung ist oberstes Ziel.


Tatsächlich wirkten die von den schwedischen Behörden getroffenen Anordnungen einem derartigen Ziel entgegen. Die Bindungen zwischen den Mitgliedern einer Familie und die Aussichten für ihre erfolgreiche Zusammenführung werden notgedrungen schwächer werden, wenn ihrem leichten und regelmäßigen Zugang zueinander Hindernisse in den Weg gelegt werden. Allein schon die Unterbringung von Helena und Thomas in einer so großen Entfernung von ihren Eltern und von Stefan (s.o. Ziff. 18) muss indessen die Möglichkeit von Kontakten untereinander ungünstig beeinflusst haben. Diese Situation wurde durch die Einschränkungen, welche die Behörden dem elterlichen Umgang auferlegten, verschlimmert

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 81

Solange es also eine Chance auf Rückführung gibt, muss dies vom Staat genutzt werden und unterstützt werden. Beschränkungen im Umgang und vorallem Geschwistertrennung dürfen daher in der Regel nicht erfolgen. Nur bei wichtigen Gründen kann etwas anderes gelten, was aber nicht bereits bei besonderem Bedarf gilt:

Ebenso trifft es zu, dass Stefan besondere Bedürfnisse hatte, jedoch genügt dieses nicht, um die Entfernung, welche ihn von den anderen beiden Kindern trennte, zu rechtfertigen

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 81

Kein Verschulden Behörde bei Geschwistertrennung nötig

Dabei, das erwähnt das Gericht explicit, ist es egal ob die Behörde in Gutem Glauben handelte oder nicht.

Das reicht aber nicht aus, um eine Maßnahme nach Art. 8 der EMRK „notwendig“ erscheinen zu lassen:

Diese Tatsache genügt indessen nicht, eine Maßnahme „notwendig“ i.S.d. Konvention werden zu lassen

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 82

Fazit: Geschwistertrennung ist unzulässig

Daher ist die Trennung von Geschwisterkindern nach der überzeugenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Regel unzulässig. Jede staatliche Maßnahme muss notwendig sein und darf die mögliche Rückführung und den Zusammenhalt der Familie nicht stören. Meiner Auffassung nach gehört daher per se die Geschwistertrennung bei staatlichen Maßnahmen verboten.

Wir lernen daraus, dass selbst bei begründeten Herausnahmen eine Verletzung der Menschenrechte durch die Art der Durchführung vorliegen kann:

mit zwölf Stimmen gegen drei, dass die Art und Weise, wie die besagte Entscheidung durchgeführt wurde, eine Verletzung von Art. 8 darstellt;

EGMR-E 4, 18

Hierfür wurde eine Entschädigung von über 20.000 € für die Eltern zu bezahlen war. Leider wurde hier versäumt, das immaterielle Leid in deutlichen Zahlen auszudrücken. Aber dafür bleiben im Zweifel ja Amtshaftungsklagen über.

Geschwisterkindertrennung verbieten

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Sorgerecht

Inobhutnahmen ohne Begründung Sofortvollzug sind rechtswidrig!

Der Verein Erzengel, dessen Vorstand ich bin, weist auf eine durch das Mitglied des Vereins erstrittene Entscheidung des Verwaltungsgerichts München, Az. M 18 S 22.3726 mit dem Datum 09.08.2022 hin. Die unter meiner Beratung erstrittene Entscheidung ist für alle Eltern, die von Inobhutnahmen ohne gerichtliche Entscheidung betroffen sind, relevant. Das Verwaltungsgericht zeigt deutlich auf, dass das Vorgehen, eine Inobhutnahme ohne schriftlichen Bescheid und ohne eine gesetzlich geforderte schriftliche Begründung rechtswidrig ist, sogar ohne eine Prüfung in der Sache.

Inobhutnahme muss schriftlich begründeten Sofortvollzug beinhalten

Eine verwaltungsrechtliche Inobhutnahme ist ein Verwaltungsakt, gegen den man Widerspruch einlegen sollte. Der Widerspruch hat immer aufschiebende Wirkung, ausser die Behörde ordnet den Sofortvollzug an. Diese Anordnung des Sofortvollzugs muss aber schriftlich begründet werden. Unterbleibt dies, ist die Inobhutnahme immer rechtswidrig, ohne Prüfung in der Sache.

Wichtige Entscheidung für alle betroffenen Eltern!

Alle Eltern ohne einen schriftlichen Bescheid des Jugendamtes können sich daher auf diese bahnbrechende Entscheidung stürzen. Die Inobhutnahmen sind dann immer rechtswidrig. Ihr könnt zudem Amtshaftungsansprüche prüfen, wenn Inobhutnahmen ohne Begründung Sofortvollzug rechtswidrig sind und das Kind herausgenommen wurde.

Die vollständige Entscheidung könnt Ihr anonym beim Verein herunterladen:

Gerne könnt Ihr Euch auch beraten lassen – dafür könnt Ihr kostenfreie Termine beim Verein reservieren – oder ihr werdet Mitglied.

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Sorgerecht

Wechselmodell auch bei Kommunikationsproblemen

Wechselmodell auch bei Kommunikationsproblemen oder erheblichen Störungen der Kommunikation kein Problem – zu dem Schluss kommt das OLG Dresden Beschluss vom 14.04.2022 – 21 UF 304/21 – freilich unter der Einschränkung, dass dieses Wechselmodell bereits gelebt sein muss. Trotzdem eine Entscheidung, die Hoffnung machen kann:

Leitsatz Wechselmodell auch bei Kommunikationsproblemen

Ein Wechselmodell kann gegen den Willen eines Elternteils auch bei einer erheblichen Störung der elterlichen Kommunikation gerichtlich angeordnet werden, wenn das Wechselmodell bereits seit geraumer Zeit tatsächlich gelebt wird, es dem beachtlichen Willen des Kindes entspricht und nachteilige Auswirkungen auf das Kind nicht feststellbar sind.

OLG Dresden

Die dortige Mutter war gegen die Anordnung des Wechselmodells gewesen. Begründet wurde die Beschwerde mit erheblichen Kommunikationsstörungen und der Manipulation des Kindeswillens. Dem hat das Oberlandesgericht nun eine Abfuhr erteilt.

Das Oberlandesgericht bekennt sich selbst in einem höchsten Konfliktfall zur BGH Rechtsprechung. Obwohl ein höchst komplexer Fall vorlag mit vielen Streiereien.

Selbst Eskalationsexzesse hindern Wechselmodell nicht

Auszugsweise führt der Beschluss aus:

Eine vernünftige, am Kindeswohl orientierte Kooperation und Kommunikation zwischen den Eltern ist auch derzeit kaum möglich. Es fehlt weiterhin an gegenseitigem Respekt und Vertrauen. Eine von dem Antragsteller und der Antragsgegnerin im Senatstermin am 22.06.2021 vereinbarte außergerichtliche Mediation ist gescheitert. Die Antragsgegnerin hat hierzu erklärt, sie habe die Mediation beendet, weil der Antragsteller sie fortlaufend beleidigt und ihr ein kriminelles Verhalten unterstellt habe. An Absprachen, die während der Mediation getroffen worden seien, habe sich der Antragsteller im Nachhinein nicht gehalten. Der Antragsteller hat noch während des Laufs des Mediationsverfahrens im Januar 2022 Strafanzeige gegen die Antragsgegnerin mit der Begründung erstattet, diese habe ein Handy, das er L… zu Weihnachten 2020 geschenkt habe, an Dritte veräußert. Im Senatstermin am 17.03.2022 hat die Antragsgegnerin berichtet, dass es mit dem Antragsteller derzeit keine Kommunikation gebe. Der Antragsteller hat seinerseits geschildert, dass eine Kommunikation der Eltern gegenwärtig nur über L… oder über die Schule stattfinde. Ein Fahrradunfall des Kindes im April 2021 hat zu seinem nach wie vor noch anhängigen Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht geführt, nachdem die Eltern kein Einvernehmen über die erforderliche ärztliche Behandlung erzielen konnten. Nach Einschätzung des Jugendamtes dauert der massive Elternkonflikt, dem L… schutzlos ausgesetzt ist, seit dem Jahre 2018 bis heute unverändert an.

OLG Dresden

Es wurde also alles mögliche an Stress produziert. Oft stellt man sich sowieso in der Beratungspraxis die Frage, ob Eltern nicht bewusst die Kommunikation hindern, um ein Wechselmodell zu verhindern.

Wechselmodell darf Kind nicht belasten

Darauf kommt es aber nicht an, solange das Wechselmodell das Kind nicht belastet:

Dabei ist die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern aber nur ein Abwägungsgesichtspunkt, der im Einzelfall zurücktreten kann. Auch bei hochkonfliktbehafteten Eltern kann das Wechselmodell dem Kindeswohl entsprechen, und zwar dann, wenn zu erwarten ist, dass das Wechselmodell die Belastung des Kindes durch den Elternkonflikt nicht verstärkt, darüber hinaus die Belastung sogar vermindert (vgl. Wache, Anm. zu OLG Bamberg, Beschluss vom 01.03.2019 – 7 UF 226/18 -, NZFam 2019, 574; Salzgeber, NZFam 2014, 921, 929). 

BGH, FamRZ 2020, 255, 257

Jede Betreuung an Vor- und Nachteilen messen, auch das Wechselmodell!

Wichtig dabei ist immer, dass bei jedem Betreuungsmodell alle Vor- und Nachteile aller Konstellationen abzuwägen sind:

Vor- und Nachteile für das betroffene Kind und seine Eltern wertend gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Bamberg, FamRZ 2019, 979, 980 = NZFam 2019, 574; KG, FamRZ 2018, 1324, 1326; Hammer, FamRZ 2015, 1433, 1442).

OLG Bamberg FamRZ 2019, 979

Das Wechselmodell kann Schadensminimierung sein

Diese Aussage des OLG finde ich so unendlich wichtig. Und man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen. Das Wechselmodell kann Schadensminimierung sein. Insbesondere wenn es seit einem Jahr keine Probleme beim Wechsel gab und die Schule das bestätigt, steht einem Wechselmodell nichts entgegen.

Die Entscheidung ist wichtig, weil der Focus auf das verlegt wird, was wirklich zählt: Dass es dem Kind gut geht. Echte oder vorgeschobene Probleme der Eltern sind zu vernachlässigen. Dem kann ich mich nur anschließen.

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