In einer Schadenersatzklage hat sich der Bundesgerichtshof zu der Frage geäußert, ob die Fachfrage nach (Pflege)Standards in einem Beweisantrag übergangen werden kann oder nicht. Die Nichteinhaltung von fachlichen Standards ist Fachfrage, die im Ergebnis das Gericht nicht aus eigener Sachkunde prüfen kann. Daher entschied der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung VI ZR 244/21 dass eine Gehörsverletzung vorliegt. Diese Entscheidung wird auch für viele Fragen der Anfechtbarkeit von familienpsychologischen Gutachten Relevanz haben.
Im entschiedenen Fall war streitig, ob ein Beweisangebot auf Einholung eines Gutachtens notwendig war oder nicht. Zum rechtlichen Gehör führt der BGH aus:
Zum rechtlichen Gehör und der Pflicht, Vortrag wahrzunehmen sowie Nichteinhalten von fachlichen Standards als Fachfrage
„Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien
BGH vom 14.11.2023 VI ZR 244/21
haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Februar 2021 – VI ZR 44/20, VersR 2022, 66 Rn. 11; vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20, VersR 2022, 1393 Rn. 11).“
Dort hatten die Ausgangsgericht überspannte Anforderungen an den Sachvortrag gestellt, die im Ergebnis eine Weigerung, Parteivortrag anzuhören, darstellt:
Überspannte Anforderungen sind eine Weigerung, Parteivortrag anzuerkennen
Dies gilt auch dann, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Eine solche nur scheinbar das Parteivorbringen würdigende Verfahrensweise stellt sich als Weigerung des Tatrichters dar, in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise den Parteivortrag zur
BGH vom 14.11.2023 VI ZR 244/21
Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juni 2009 – II ZR 143/08, NJW 2009, 2598 Rn. 2; Beschlüsse vom Februar 2013 – I ZR 22/12, TranspR 2013, 430 Rn. 10; vom 16. April 2015 IX ZR 195/14, NJW-RR 2015, 829 Rn. 9; vom 21. Februar 2017 – VIII ZR 1/16, NJW 2017, 1877 Rn. 10; vom 12. Oktober 2021 – VIII ZR 91/20, NJW-RR 2022, 86 Rn. 17).
Fehlende Sachkunde bei Gericht
Denn die Gerichte haben bei der Beantwortung der Frage, ob Fehler vorliegen, in der Regel nicht die notwendige Sachkunde
„Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Anforderungen an den Sachvortrag überspannt, sich über den Antrag der Kläger auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob der Beklagten ein Fehler bei der pflegerischen Betreuung der Patientin unterlaufen ist, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet hat.“
BGH vom 14.11.2023 VI ZR 244/21
Bedeutung in Familiensachen
Welche Bedeutung hat nun diese Frage in Familiensachen? Viele werden sagen, dass dort ja kein Strengbeweis gilt sondern der Freibeweis und die Amtsermittlung. Gleichwohl, sobald ein Gutachten eingeholt wird, ist hierin ein Strengbeweis gegeben i.S. §30 FamFG. Doch ist die Frage, ob ein familienpsychologisches Gutachten an die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten in Kindschaftssachen gebunden ist, Rechts- oder Fachfrage? Muss also hier ein Gutachten eingeholt werden?
Meiner Auffassung nach beides. Ich selbst habe ja schon vor Monaten kolportiert, dass die Einhaltung der Mindestanforderungen eine Rechtsfrage ist, die das Gericht von Amts wegen prüfen muss (oder man holt unsere Fachexpertise ein). Kommt aber das Gericht zum Ergebnis, diese wären eingehalten – trotz gegenläufigem Vortrag eurerseits) oder es lägen Fehler vor, die aber das Ergebnis nicht bedingen, liegt eine Fachfragestellung vor, die im Ergebnis nur ein Obergutachten bewerten kann.