Entfremdung oder „Kontaktprobleme“ ist Körperverletzung und betrifft beider maßen Väter und Mütter – egal, wer welche Kampagne gegen wen fährt (vgl. mein Artikel hier).
Wie komme ich dazu, wo doch die Auswirkungen der Entfremdung „umstritten“ sein sollen (vgl. Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023; BVerfG 1 BvR 1076/23)?
Nun, zum einen ist es ein Fakt, dass es Entfremdungen gibt, also Kinder die einen oder beide Elternteile nicht sehen wollen oder nicht sehen dürfen. Seit vielen Jahren ist dabei wissenschaftlich geklärt, dass Umgang mit den Eltern für alle Beteiligten positive Aspekte haben.
Positive Aspekte von Umgang
Dettenborn und Walter kommentieren hierzu in „Familienrechtspsychologie“ das folgende:
„Unmittelbare Vorteile für das Kind ist die Beachtung des Willens, Selbstwirksamkeit, Situationskontrolle, erleichterte Scheidungsverbund, Entlastung der Beziehung zum betreuenden Elternteil, Entlastung der Beziehung zu außenstehenden,
Für den betreuenden Elternteil Entlastung, Stressreduktion, mehr Freistunden,
Für den umgangsberechtigten Elternteil Befriedigung emotionaler Bedürfnisse gegenüber dem Kind, Möglichkeit die fortgeltende Elternverantwortung wahrzunehmen und Information und Teilhabe bezüglich der Kindesentwicklung,
Während die langfristigen Vorteile beim Kind normgemäße Persönlichkeitsentwicklung mit Sozial- und Selbstkompetenz, Leistungshaltung und Vorsorge für Notsituationen besteht,
Für den betreuenden Elternteil eine stabile altersgemäße Kindesentwicklung, ein entspanntes Langzeitverhältnis zum Kind, und Vermeidung von Idealisierung des umgangsberechtigten Elternteils sowie vermeiden von Unlustspannungen, Schuldgefühlen Aggressionsspiralen, Erziehungssackgassen und Abhängigkeiten“
zitiert nach Dettenborn und Walter, Familienrechtspsychologie, 4. Auflage 2022, S. 251
Das heißt aber im Umkehrschluss, dass kein Umgang eben auch eine negative Beeinflussung dieser Situation hat, vorallem für das Kind, aber auch die Eltern.
Kein Umgang bedeutet
- Keine normgemäße Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
- Probleme bei der Sozial- und Selbstkompetenz des Kindes
- Keine Information über die Entwicklung des Kindes und damit kein Eingriff bei Negativentwicklungen für den umgangsberechtigten Elternteil
- Keine Befriedigung emotionaler Bedürfnisse des umgangsberechtigten Elternteils
- Kein entspanntes Langzeitverhältnis zum Kind für den hauptbetreuenden Elternteil
- usw.
Wieso ist Entfremdung Körperverletzung?
Die strafrechtliche Definition der Körperverletzung (§223 StGB) lautet:
Eine Körperverletzung ist eine unangemessene und üble Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden des Einzelnen in nicht unerheblicher Weise beeinträchtigt wird (vgl. z.B. Uni Potsdam hier). Dabei kann bereits das Abschneiden von Haaren eine solche Körperverletzung sein (hier). Denn auf Schmerzen kommt es nicht an.
Etwas anderes ist es freilich bei rein psychologischer Auswirkung. Hierzu hat der BGH folgendes festgestellt:
„Rein psychische Empfindungen genügen bei keiner Handlungsalternative, um einen Körperverletzungserfolg gemäß § 223 Abs. 1 StGB zu begründen (BGH, Urteil vom 9. Oktober 2002 – 5 StR 42/02, BGHSt 48, 34, 36; vgl. ferner BGH, Beschluss vom 11. Juli 2012 – 2 StR 60/12, NStZ-RR 2012, 340 f.; OLG Düsseldorf, NJW 2002, 2118; Meyer, ZStW 115 (2003), 249, 261). Wirkt der Täter auf sein Opfer lediglich psychisch ein, liegt eine Körperverletzung daher erst dann vor, wenn ein pathologischer, somatisch-objektivierbarer Zustand hervorgerufen worden ist, der vom Normalzustand nachteilig abweicht (BGH aaO S. 36 f.; Urteil vom 31. Oktober 1995 – 1 StR 527/95, BGHR StGB § 223 Abs. 1 Gesundheitsbeschädigung 2).
BGH 4 Str 168/13
Bloß emotionale Reaktionen auf Aufregungen, wie etwa starke Gemütsbewegungen oder andere Erregungszustände, aber auch latente Angstzustände, stellen keinen pathologischen Zustand und damit keine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB dar (Senatsbeschluss vom 5. November 1996 – 4 StR 490/96, NStZ 1997, 123).“
Nur massive und dauerhafte Angst ist Körperverletzung
Eine Anpassungsstörung reicht insoweit alleine nicht aus (aaO), diese hat keinen Krankheitswert. Auch Schlafstörungen müssen nicht zwingend ausreichen, es kommt hier auf die Intensität an (aaO).
Auch zeitlich befristete Angst reicht nicht aus:
Angst als solche stellt jedoch – insbesondere wenn die Reaktion „zeitlich begrenzt“ bzw. „kurzfristig“ auftritt – lediglich eine Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens und eine normale Reaktion auf Bedrohungen, nicht aber einen pathologischen Zustand dar (Senatsbeschluss vom 5. November 1996 – 4 StR 490/96, NStZ 1997, 123; vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2012 – 2 StR 60/12, NStZ-RR 2012, 340 f.; OLG Köln, NJW 1997, 2191, 2192; NK-StGB/Paeffgen, 4. Aufl., § 223 Rn. 11a)
BGH 4 Str 168/13
Gleichwohl weist das OLG Köln darauf hin, dass eine Angst eine Kindeswohlgefährdung darstellt, wenn diese aufgrund der Bindungsintoleranz hervorgerufen wurde:
Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundeverfassungsgericht, dass die seelische Entwicklung des Kindes durch das anhaltende massive Hervorrufen von Ängsten gegenüber dem umgangsberechtigten Elternteil infolge der defizitären Bindungstoleranz des umgangsverpflichteten Elternteils insbesondere im Zusammenhang mit einem verschärften Elternkonflikt eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls darstellen kann, die die Gefährdungsgrenze des § 1666 Abs. 1 BGB erreichen und zu einem Eingriff in das Sorgerecht Veranlassung geben kann (BVerfG, Beschluss vom 27.11.2020 – 1 BvR 836/20, FamRZ 2021, 753).“
OLG Köln, Beschluss vom 11.07.2022 – 14 UF 34/22
Soweit Ängste also massiv sind, also ein Dauerzustand, liegt keine „kurzfristige“ oder „zeitlich begrenzte“ Angst als Reaktion vor; damit liegt eine Körperverletzung vor.
Dasselbe gilt, wenn die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt ist und insbesondere dauerhaft die Sozial- und Selbstkompetenz des Kindes beeinträchtigt sind.
Dasselbe gilt freilich, wenn bei einem Elternteil dauerhafte und massive Auswirkungen vorliegen. Es empfiehlt sich insoweit, eine Diagnostik einzuholen oder ein Attest, um Dauer und Intensität zu belegen.
Strafrecht vs. Familienrecht
Dass dabei die Hürden im Strafrecht andere sind als im Familienrecht, ist normal. Denn letzteres setzt bereits bei einer konkreten, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr ein, deren Verwirklichung bevorstehen muss, während für das Strafrecht ein Körperverletzungserfolg vorsätzlich erfolgt sein muss.
Und damit ist Entfremdung Körperverletzung und ein Fakt – egal ob man diesen Fakt Kontaktprobleme oder anders nennt.
Und: Wenn Umgang aus guten Gründen nicht erfolgt, dann ist es auch keine Entfremdung – bei Gewalt oder fehlender Bindung. Dieser feine Unterschied wird ja oft vergessen.
Eine Antwort auf „Entfremdung ist Körperverletzung“
[…] kann jeder Umgangsboykott sein (siehe hier Entfremdung ist auch Körperverletzung), aber auch ein komplettes Untertauchen mit dem […]