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Befangenheit von Richtern im Familienrecht: Ihre Rechte und das Verfahren

Im komplexen Feld des Familienrechts ist das Vertrauen in die Unparteilichkeit der entscheidenden Richter von höchster Bedeutung. Der Begriff der Befangenheit von Richtern beschreibt eine Situation, in der begründete Zweifel an der Unabhängigkeit und Neutralität eines Richters bestehen. Auf familienrecht.activinews.tv möchten wir Ihnen als Experten im Familienrecht dieses wichtige Thema näherbringen. Wir beleuchten die Voraussetzungen der Befangenheit, wann keine Befangenheit vorliegt, und geben Ihnen praktische Hinweise zum Vorgehen.

Wann ist ein Richter befangen? Die Voraussetzungen im Überblick

Die Befangenheit eines Richters ist gegeben, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 2 ZPO, der im FamFG entsprechend anwendbar ist, vgl. § 113 Abs. 1 FamFG). Es geht dabei nicht um die tatsächliche Voreingenommenheit des Richters, sondern um den objektiven Anschein der Befangenheit aus der Sicht eines vernünftigen Beteiligten.

Die wichtigsten Voraussetzungen für die Befangenheit eines Richters sind:

  1. Vorliegen eines Befangenheitsgrundes: Dies können Tatsachen oder Umstände sein, die vernünftigerweise den Eindruck erwecken, der Richter stehe der Sache oder einer Partei nicht unvoreingenommen gegenüber.
  2. Geeignetheit zur Misstrauensbegründung: Der Befangenheitsgrund muss objektiv geeignet sein, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Subjektive Empfindungen oder bloße Mutmaßungen genügen nicht.

Die Gründe für eine mögliche Befangenheit sind vielfältig und im Gesetz nicht abschließend aufgezählt. Typische Beispiele sind:

  • Persönliche Beziehungen: Verwandtschaft, Freundschaft oder Feindschaft zu einer der Parteien oder deren Rechtsanwälten.
  • Eigene Betroffenheit: Der Richter ist selbst in einer ähnlichen rechtlichen Auseinandersetzung verwickelt oder hat ein persönliches Interesse am Ausgang des Verfahrens.
  • Vorherige Äußerungen oder Handlungen: Äußerungen oder Handlungen des Richters außerhalb des Verfahrens, die eine Vorfestlegung oder eine ablehnende Haltung gegenüber einer Partei erkennen lassen.
  • Mitwirkung in Vorinstanzen oder anderen Verfahren: Unter bestimmten Umständen kann die Mitwirkung des Richters in einem früheren Verfahren, das mit dem aktuellen zusammenhängt, Befangenheit begründen.

Wann liegt keine Befangenheit vor? Subjektive Eindrücke und allgemeine Ansichten

Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht jede Unzufriedenheit mit der Verfahrensführung oder der vorläufigen Einschätzung des Richters eine Befangenheit begründet.

Keine Befangenheit liegt in der Regel vor bei:

  • Sachlichen Entscheidungen und Verfahrensweisen: Eine abweisende Entscheidung, die Ablehnung eines Beweisantrags oder eine – aus Sicht einer Partei – ungünstige Verfahrensleitung stellen für sich genommen keine Befangenheit dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.2018 – 1 BvR 2931/17). Richter sind gehalten, das Verfahren nach ihrer Rechtsauffassung zu führen.
  • Allgemeinen Rechtsansichten: Die generelle Rechtsauffassung eines Richters zu bestimmten familienrechtlichen Fragen begründet keine Befangenheit, solange diese im Rahmen der Gesetze und der Rechtsprechung liegt.
  • Bloßen Vermutungen oder subjektiven Eindrücken: Die bloße Besorgnis einer Partei, der Richter könnte befangen sein, ohne dass objektive Gründe vorliegen, reicht für einen Befangenheitsantrag nicht aus.
  • Der bloßen Ablehnung von Anträgen: Dass ein Richter Anträge einer Partei ablehnt, bedeutet nicht automatisch, dass er befangen ist. Dies kann auf einer abweichenden Rechtsauffassung oder der Würdigung des Sachverhalts beruhen.

Erstreckt sich Befangenheit auf mehrere Verfahren?

Die Frage, ob sich die Befangenheit eines Richters auf mehrere Verfahren erstreckt, lässt sich nicht pauschal beantworten. Grundsätzlich ist die Befangenheit verfahrensbezogen. Das bedeutet, ein Befangenheitsgrund, der in einem konkreten Verfahren besteht, wirkt sich zunächst nur auf dieses Verfahren aus.

Allerdings kann sich eine festgestellte Befangenheit unter Umständen auf andere, eng zusammenhängende Verfahren erstrecken, insbesondere wenn der Befangenheitsgrund eine generelle Haltung des Richters gegenüber einer bestimmten Person oder einem bestimmten Sachverhaltskomplex betrifft. Dies ist jedoch eine Frage des Einzelfalls und hängt stark von der Art und dem Umfang des Befangenheitsgrundes ab.

Beispielsweise könnte eine offenkundige Feindschaft eines Richters gegenüber einer Partei in einem Scheidungsverfahren auch in einem nachfolgenden Unterhaltsverfahren zwischen denselben Parteien einen Befangenheitsantrag rechtfertigen. Entscheidend ist, ob der ursprüngliche Befangenheitsgrund die Besorgnis rechtfertigt, der Richter werde auch im neuen Verfahren nicht unvoreingenommen sein.

Fünf Entscheidungsbeispiele zur Befangenheit von Familienrichtern:

Um die Anwendung der Grundsätze zur Befangenheit im Familienrecht zu verdeutlichen, betrachten wir fünf Entscheidungsbeispiele:

  1. OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.08.2019 – 6 UF 131/19: Eine Richterin hatte in einem parallel geführten einstweiligen Anordnungsverfahren eine Wertung vorgenommen, die die Mutter als „unkooperativ“ bezeichnete. Das OLG sah hierin eine Begründung für die Besorgnis der Befangenheit im Hauptsacheverfahren zum Umgangsrecht, da die vorläufige Wertung den Eindruck erweckte, die Richterin habe sich bereits eine feste Meinung gebildet, die die Mutter benachteiligte.
  2. BGH, Beschluss vom 16.05.2018 – XII ZB 107/18: Die bloße Tatsache, dass ein Richter in einem früheren Verfahren eine für eine Partei ungünstige Entscheidung getroffen hat, begründet in der Regel keine Befangenheit für ein nachfolgendes Verfahren zwischen denselben Parteien. Entscheidend ist, ob zusätzliche Umstände hinzutreten, die den Anschein der Befangenheit erwecken.
  3. OLG Celle, Beschluss vom 17.07.2017 – 10 UF 103/17: Die private Bekanntschaft eines Richters mit dem Verfahrensbevollmächtigten einer Partei kann einen Befangenheitsgrund darstellen, insbesondere wenn diese Bekanntschaft über das übliche Maß hinausgeht und den Eindruck erweckt, der Richter könnte dadurch beeinflusst sein.
  4. OLG Brandenburg, Beschluss vom 22.02.2016 – 9 UF 178/15: Äußerungen eines Richters während einer Anhörung, die eine erkennbare Voreingenommenheit gegenüber einer Partei zum Ausdruck bringen (z.B. abfällige Bemerkungen), können die Besorgnis der Befangenheit begründen.
  5. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2015 – 1 BvR 1237/15: Die Mitwirkung eines Richters in einer Vorinstanz führt nicht automatisch zur Befangenheit in der Rechtsmittelinstanz. Entscheidend ist, ob der Richter sich in der Vorinstanz bereits so intensiv mit der Sache auseinandergesetzt hat, dass der Anschein entsteht, er gehe mit einer vorgefassten Meinung in die neue Verhandlung.

Wie stellen Sie einen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit? Schritt für Schritt

Wenn Sie den Eindruck haben, dass ein Richter in Ihrem Familienrechtsverfahren befangen ist, können Sie einen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit stellen. Das Verfahren hierfür ist in §§ 44 ff. ZPO geregelt, die über § 113 Abs. 1 FamFG auch im familiengerichtlichen Verfahren gelten.

Die wichtigsten Schritte zur Stellung eines Befangenheitsantrags:

  1. Schriftlicher Antrag: Der Antrag muss schriftlich beim zuständigen Familiengericht eingereicht werden.
  2. Er muss im Namen der betroffenen Partei erfolgen, nicht im Namen des Anwalts/der Anwältin.
  3. Begründung: Der Antrag muss die Gründe enthalten, aus denen die Befangenheit des Richters abgeleitet wird. Diese Gründe müssen konkret und nachvollziehbar dargelegt werden. Bloße Behauptungen oder Mutmaßungen genügen nicht.
  4. Benennung des abgelehnten Richters: Der Antrag muss den Namen des Richters enthalten, dessen Ablehnung begehrt wird.
  5. Unverzüglichkeit: Der Antrag sollte unverzüglich gestellt werden, nachdem der Ablehnungsgrund bekannt geworden ist (§ 43 ZPO). Eine schuldhafte Verzögerung kann zur Unzulässigkeit des Antrags führen.
  6. Die Gründe müssen glaubhaft gemacht werden, was in der Regel nur mit präsenten Beweismitteln (Akteninhalt, eidesstattliche Versicherung) und dem Hinweis auf die dienstliche Stellungnahem des Richters möglich ist.

Nach Eingang des Antrags nimmt der abgelehnte Richter zunächst Stellung zu den vorgebrachten Gründen (§ 44 Abs. 2 ZPO). Anschließend entscheidet das Gericht über den Antrag. Zuständig für die Entscheidung ist in der Regel ein anderes Kollegialorgan (z.B. ein anderer Familienrichter/Senat am Oberlandesgericht).

Wichtiger Hinweis: Ein Ablehnungsantrag sollte wohlüberlegt sein, da er das Verfahren verzögern kann (was insbesondere bei herausgenommenen Kindern problematisch sein kann) und bei unbegründeter Antragstellung keine positiven Auswirkungen hat. Es ist ratsam, vor der Stellung eines Antrags rechtlichen Rat einzuholen.

Konkrete Handlungsanweisungen bei vermuteter Befangenheit:

  1. Sorgfältige Beobachtung: Achten Sie auf Äußerungen und Verhaltensweisen des Richters während der Verhandlungen.
  2. Dokumentation: Notieren Sie konkrete Vorfälle, die den Eindruck der Befangenheit erwecken könnten (Datum, Uhrzeit, genauer Wortlaut).
  3. Rechtlichen Rat einholen: Besprechen Sie Ihre Beobachtungen mit Ihrem Rechtsanwalt. Dieser kann die Erfolgsaussichten eines Befangenheitsantrags einschätzen und Sie im weiteren Vorgehen beraten.
  4. Antrag sorgfältig begründen: Verfassen Sie den Ablehnungsantrag gemeinsam mit Ihrem Anwalt und legen Sie die Gründe detailliert und sachlich dar.

Fazit: Ihr Recht auf einen unparteiischen Richter

Das Recht auf einen unparteiischen Richter ist ein fundamentaler Bestandteil eines fairen Verfahrens. Die Befangenheit von Richtern kann das Vertrauen in die Justiz erschüttern. Es ist wichtig, die Voraussetzungen für eine Befangenheit zu kennen und zu wissen, wann ein Ablehnungsantrag gerechtfertigt sein kann. Bei Zweifeln sollten Sie nicht zögern, rechtlichen Rat einzuholen, um Ihre Rechte zu wahren.

Benötigen Sie Unterstützung in einem familienrechtlichen Verfahren oder haben Sie Fragen zur Befangenheit eines Richters? Kontaktieren Sie uns auf familienrecht.activinews.tv oder buchen einen Termin für eine Einschätzung.


Quellenliste:

  • Zivilprozessordnung (ZPO), §§ 42-49 Ablehnung eines Richters: https://www.gesetze-im-internet.de/zpo/__42.html
  • Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), § 113 Verfahrensvorschriften: https://www.gesetze-im-internet.de/famfg/__113.html
  • Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 17.04.2018 – 1 BvR 2931/17: (Abrufbar über die Datenbank des BVerfG)
  • Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 16.05.2018 – XII ZB 107/18: (Abrufbar über die Rechtsprechungsdatenbank des BGH)
  • Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt, Beschluss vom 28.08.2019 – 6 UF 131/19: (Abrufbar über einschlägige juristische Datenbanken)
  • Oberlandesgericht (OLG) Celle, Beschluss vom 17.07.2017 – 10 UF 103/17: (Abrufbar über einschlägige juristische Datenbanken)
  • Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg, Beschluss vom 22.02.2016 – 9 UF 178/15: (Abrufbar über einschlägige juristische Datenbanken)
  • Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 21.07.2015 – 1 BvR 1237/15: (Abrufbar über die Datenbank des BVerfG)
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Recht allgemein Sorgerecht

Kindesentziehung: Was Sie wissen müssen – Voraussetzungen und wann keine vorliegt

Die plötzliche Entfernung eines Kindes durch einen Elternteil ist ein Albtraum für den anderen. Der Begriff der Kindesentziehung weckt starke Emotionen und birgt komplexe rechtliche Fragen. Auf familienrecht.activinews.tv möchten wir Ihnen als Experten im Familienrecht Klarheit verschaffen. Dieser Beitrag beleuchtet die Voraussetzungen der Kindesentziehung nach deutschem und europäischem Recht, geht darauf ein, wann keine Kindesentziehung vorliegt, und gibt Ihnen konkrete Handlungsempfehlungen.

Was genau versteht man unter Kindesentziehung?

Die Kindesentziehung ist im deutschen Strafgesetzbuch in § 235 StGB geregelt. Danach macht sich strafbar, wer einem Elternteil, der das Personensorgerecht hat, oder wer einem Vormund das Kind widerrechtlich entzieht oder vorenthält.

Die wichtigsten Voraussetzungen für eine Kindesentziehung nach § 235 StGB sind:

  1. Bestehendes Personensorgerecht des anderen Elternteils oder eines Vormunds: Dies ist die grundlegende Voraussetzung. Ohne ein bestehendes Sorgerecht des anderen Elternteils kann keine strafrechtliche Kindesentziehung vorliegen. Das Sorgerecht kann durch Gesetz (z.B. bei verheirateten Eltern), durch gerichtliche Entscheidung oder durch eine Sorgeerklärung begründet sein.
  2. Widerrechtliches Entziehen oder Vorenthalten des Kindes:
    • Entziehen bedeutet, dass das Kind gegen den Willen des sorgeberechtigten Elternteils oder des Vormunds aus dessen Obhut entfernt wird.
    • Vorenthalten liegt vor, wenn das Kind nach einer erlaubten Ortsveränderung (z.B. nach einem Umgangswochenende) nicht an den sorgeberechtigten Elternteil zurückgegeben wird. Die Widerrechtlichkeit ergibt sich dabei aus der Verletzung des Sorgerechts des anderen Elternteils.
  3. Eltern können in Deutschland nur mit List, Drohung oder Gewalt entziehen, nicht aber durch bloße Untätigkeit der Rückgabe. Anderes soll bei Entziehung ins Ausland gelten, nicht aber innerhalb der EU (Freizügigkeit).

Wann liegt keine Kindesentziehung vor? Insbesondere bei nicht zurückgekehrten Kindern nach Umgang?

Eine wichtige Unterscheidung ist, wann ein Verhalten nicht als Kindesentziehung im Sinne des § 235 StGB zu werten ist. Dies ist besonders relevant in Fällen, in denen Kinder nach einem Umgang nicht zum anderen Elternteil zurückgebracht werden.

Keine Kindesentziehung liegt in folgenden Fällen vor:

  • Kein gemeinsames Sorgerecht oder kein Sorgerecht des anderen Elternteils: Hat der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, das alleinige Sorgerecht, so kann die Nichtrückgabe des Kindes nach einem Umgang mit dem anderen Elternteil grundsätzlich keine Kindesentziehung im strafrechtlichen Sinne darstellen, da es an dem durch die Handlung beeinträchtigten Sorgerecht fehlt.
  • Kein Herausgabetitel: Fehlt eine gerichtliche Entscheidung (Herausgabebeschluss gemäß § 1632 BGB) oder eine vereinbarte Umgangsregelung, die die Rückgabe des Kindes nach einem Umgang explizit anordnet, so ist die Nichtrückgabe allein nicht automatisch als widerrechtliches Vorenthalten im Sinne des § 235 StGB zu qualifizieren (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 18.07.2013 – III-1 UF 103/13). Das bedeutet, solange keine klare rechtliche Grundlage für die Herausgabe des Kindes existiert, kann die Nichtrückgabe nach einem Umgang strafrechtlich nicht als Kindesentziehung verfolgt werden. Allerdings können zivilrechtliche Ansprüche auf Herausgabe bestehen.
  • Einverständnis des sorgeberechtigten Elternteils: Wenn der sorgeberechtigte Elternteil mit dem Aufenthalt des Kindes beim anderen Elternteil einverstanden ist, liegt keine Entziehung vor.
  • Gefahr für das Kindeswohl: In extremen Fällen, in denen eine unmittelbare Gefahr für das Wohl des Kindes bei einer Rückkehr zum anderen Elternteil bestehen würde, kann die Nichtrückgabe unter Umständen gerechtfertigt sein (Notstand gemäß § 34 StGB). Dies sind jedoch Ausnahmefälle, die einer sorgfältigen Prüfung bedürfen.
  • Es liegt eine Entziehung der Eltern vor, ohne dass List, Gewalt oder Drohung angewandt wurde.

Welche Rolle spielt das EU-Recht bei Kindesentziehung?

Neben dem deutschen Recht spielt das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) eine zentrale Rolle, wenn ein Kind über eine internationale Grenze verbracht wurde. Deutschland ist Vertragsstaat des HKÜ.

Die Hauptziele des HKÜ sind:

  • Die sofortige Rückführung widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort widerrechtlich zurückgehaltener Kinder sicherzustellen.
  • Die Ausübung des Sorge- und Umgangsrechts zu schützen.

Nach dem HKÜ ist die Verbringung oder das Zurückhalten eines Kindes widerrechtlich, wenn:

  • es unter Verletzung eines Sorge- oder Umgangsrechts erfolgt ist, das einer Person, einer Einrichtung oder einer anderen Stelle nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor der Verbringung oder dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
  • dieses Recht im Zeitpunkt der Verbringung oder des Zurückhaltens tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls die Verbringung oder das Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das HKÜ sieht ein Rückführungsverfahren vor, in dem das Gericht des Staates, in dem sich das Kind nunmehr befindet, grundsätzlich verpflichtet ist, die Rückführung des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts anzuordnen. Es gibt jedoch Ausnahmen von dieser Rückführungspflicht, beispielsweise wenn eine schwerwiegende Gefahr für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes besteht (Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ).

Innerhalb der Europäischen Union gilt zusätzlich die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-Verordnung), die das HKÜ ergänzt und in einigen Punkten modifiziert. Sie regelt die Zuständigkeit der Gerichte und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.

Konkrete Beispiele zur Anwendung des Gesetzes:

Um die Anwendung der Gesetze zu verdeutlichen, betrachten wir drei Beispiele:

Beispiel 1: Gemeinsames Sorgerecht, gerichtlicher Herausgabebeschluss liegt vor

Anna und Ben haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Lisa (6 Jahre). Nach einem gerichtlich geregelten Umgangswochenende bei Ben bringt dieser Lisa nicht wie vereinbart zu Anna zurück. Hier liegt keine Kindesentziehung gemäß § 235 StGB vor, da Anna zwar auch das Sorgerecht besitzt und die Nichtrückgabe gegen den gerichtlichen Herausgabebeschluss verstößt, was die Widerrechtlichkeit begründen würde. Aber es liegt keine List, Gewalt oder Drohung vor. Zudem könnte dies auch ein Fall des widerrechtlichen Zurückhaltens im Sinne des HKÜ sein, wenn sich Ben mit Lisa ins Nicht-EU-Ausland begeben hätte. Anna kann daher ohne den Nachweis von List, Drohung oder Gewalt keine strafrechtlichen Schritte einleiten, aber die Herausgabe von Lisa zivilrechtlich beantragen (§ 1632 BGB) oder Ordnungsgeld.

Beispiel 2: Alleiniges Sorgerecht der Mutter, keine gerichtliche Umgangsregelung

Carla hat das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn Max (8 Jahre). Vater David hat regelmäßig Umgang mit Max. Nach einem Umgangswochenende behält David Max bei sich und informiert Carla, dass er Max vorerst nicht zurückbringen wird. Da Carla das alleinige Sorgerecht hat und es keine gerichtliche Entscheidung zur Herausgabe gibt, die David zur Rückgabe verpflichtet, liegt keine strafrechtliche Kindesentziehung gemäß § 235 StGB vor. Carla kann jedoch zivilrechtlich die Herausgabe von Max gemäß § 1632 BGB beantragen und gegebenenfalls eine gerichtliche Umgangsregelung erwirken.

Beispiel 3: Internationale Verbringung bei gemeinsamem Sorgerecht

Die verheirateten Eltern Elena (deutsche Staatsangehörige, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) und Stefan (italienischer Staatsangehöriger, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Sofia (4 Jahre). Ohne Elenas Zustimmung verlässt Stefan mit Sofia Deutschland und reist nach Italien. Hier liegt eine widerrechtliche Verbringung im Sinne des HKÜ vor, da Elena ein Mit-Sorgerecht besitzt und der gewöhnliche Aufenthalt von Sofia in Deutschland war. Elena kann in Deutschland einen Antrag auf Rückführung von Sofia nach dem HKÜ stellen, der dann von den italienischen Behörden bearbeitet wird. Gleichzeitig liegt aber keine Kindesentziehung vor, da die deutschen strafrechtlichen Regeln im Widerspruch zur Freizügigkeit innerhalb der EU stehen.

Welche konkreten Schritte sollten Sie bei einer (vermuteten) Kindesentziehung unternehmen?

Wenn Sie befürchten, dass Ihr Kind widerrechtlich entzogen wurde oder nicht zurückgegeben wird, sind schnelle und überlegte Schritte entscheidend:

  1. Ruhe bewahren: Auch wenn die Situation emotional sehr belastend ist, versuchen Sie, einen kühlen Kopf zu bewahren.
  2. Dokumentation: Sammeln Sie alle relevanten Informationen und Dokumente, wie z.B. Geburtsurkunde des Kindes, Heiratsurkunde (falls vorhanden), Sorgerechtsbeschlüsse, Umgangsvereinbarungen, Kontaktdaten des anderen Elternteils.
  3. Kontaktaufnahme: Versuchen Sie, mit dem anderen Elternteil in Kontakt zu treten, um die Situation zu klären. Dabei können Sie auch wichtige Aspekte zu List, Drohung oder Gewalt sammeln, die eine Entziehung begründen können. Bei der Kontaktaufnahme sollten sie auf Beweisbarkeit achten (Zeuge, der Telefonat mithört, E-Mail, aber keine illegalen Tonbandaufnahmen).
  4. Rechtliche Beratung: Suchen Sie umgehend einen auf Familienrecht spezialisierten Rechtsanwalt auf. Dieser kann die rechtliche Situation einschätzen und die notwendigen Schritte einleiten.
  5. Strafanzeige: Bei einer vermuteten strafrechtlichen Kindesentziehung (§ 235 StGB) kann eine Strafanzeige bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft sinnvoll sein.
  6. Antrag beim Familiengericht: Beantragen Sie beim zuständigen Familiengericht gegebenenfalls die Herausgabe des Kindes (§ 1632 BGB), wenn noch kein Titel vorliegt, oder die Regelung des Sorgerechts und des Umgangs. Die Polizei kann idR auch erst dann helfen, wenn es einen Herausgabetitel gibt.
  7. Bei internationaler Entführung: Wenn das Kind ins Ausland verbracht wurde, informieren Sie umgehend Ihren Rechtsanwalt über den möglichen Aufenthaltsort und prüfen Sie die Möglichkeit eines Rückführungsantrags nach dem HKÜ. In Deutschland ist das Bundesamt für Justiz (BfJ) die zentrale Behörde für internationale Kindesentführungen und unterstützt sie dabei.

Fazit: Schnelles Handeln und rechtlicher Beistand sind entscheidend

Die Kindesentziehung ist ein gravierender Eingriff in das Leben eines Kindes und des zurückgelassenen Elternteils. Das deutsche und europäische Recht bieten Instrumente, um dem entgegenzuwirken. Es ist entscheidend, die Voraussetzungen der Kindesentziehung genau zu kennen und zu wissen, wann keine strafrechtliche Kindesentziehung vorliegt, insbesondere im Kontext nicht zurückgekehrter Kinder nach Umgang ohne klaren Herausgabetitel oder bei Entziehungen ohne List, Drohung und Gewalt oder innerhalb der EU. Im Falle einer (vermuteten) Kindesentziehung ist schnelles Handeln und die Hinzuziehung eines erfahrenen Rechtsanwalts unerlässlich.

Benötigen Sie rechtliche Unterstützung in einem Fall von Kindesentziehung oder haben Sie Fragen zum Sorgerecht und Umgang? Kontaktieren Sie uns für eine erste Einschätzung oder buchen einen unverbindlichen Gesprächstermin.


Quellenliste:

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Recht allgemein Sorgerecht

Triftige Gründe

Triftige Gründe benötigt man, um die Abänderung eines Beschlusses oder eines Vergleiches i.S. §1696 I BGB zu erreichen. Dabei ist der Maßstab strenger als beim Kindeswohl. Oftmals wird für Gerichte und Beschwerdegerichte, um eine schnelle Entscheidung herbeizuführen, verneint, dass triftige Gründe vorliegen. Daher gilt es hier besonnen vorzutragen und typische Fehler bei Abänderungsanträgen zu vermeiden.

Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB

Der Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB ist streng. Er ist strenger als der Maßstab der §§ 1697a oder 1671 BGB.

Es genügt nicht, dass die Neuregelung dem Kindeswohl genügt.

Grüneberg/Götz BGB, 82. Aufl. 2023, BGB § 1696 Rn. 9

Es muss eine Abwägung aller Vor- und Nachteile erfolgen:

Vielmehr müssen im Hinblick auf die gewünschte Stabilität der Lebensverhältnisse des Kindes die Vorteile der angestrebten Neuregelung die mit der Abänderung verbundenen Nachteile deutlich überwiegen (Grüneberg/Götz BGB § 1696 Rn. 9 mit Hinweis auf OLG Hamburg NJW-RR 2021, 197 = FamRZ 2021, 204; OLG Dresden NJOZ 2022, 1027 = FamRZ 2022, 1208).

OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22

Unterschied triftige Gründe und Abwägung bei Sorgerechts- und Umgangsantrag

Bei der Abwägung kommt es auch darauf an, ob man über Sorgerecht oder Umgangsrecht streitet (beachtet: Wechselmodell ist nach wie vor Umgangsregelung!); denn eine solche Abänderung ist schneller auszusprechen, weil die Folgen bei Umgang weniger gravierend sind:

Allerdings sind die Voraussetzungen für eine Modifikation des Umgangs niedriger als bei Entscheidungen zum Sorgerecht, weil die Abänderung einer Umgangsregelung regelmäßig weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes eingreift (OLG Frankfurt a. M. NJOZ 2022, 97 = FamRZ 2022, 362).

OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22

Ausführlicher hierzu das OLG Frankfurt:

Da Umgangsregelungen in besonderem Maß der Anpassungsnotwendigkeit unterliegen (Staudinger/Coester BGB, 2019, § 1696 Rn. 30) ist die Änderungsschwelle für eine Modifikation oder eine Erweiterung des Umgangs niedriger als bei sorgerechtlichen Regelungen anzusetzen. Umgangsregelungen greifen zum einen weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes ein als ein grundsätzlicher Platzierungswechsel. Zum anderen können Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien häufig notwendig werden (Staudinger/Coester BGB § 1696 Rn. 113). Anpassungen an veränderte Umstände können demnach schon dann geboten sein, wenn dies dem Kindeswohl dient (OLG Brandenburg 27.12.2016 – 10 UF 23/16, BeckRS 2016, 124514). Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch Umgangsregelungen eine „gewisse Bestandskraft“ haben, die ohne Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht durchbrochen werden darf (OLG Zweibrücken NJW-RR 1997, 900).

OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 26.10.2021 – 6 UF 147/21

Anpassungen sind der Umgangsregelung immanent; Kinder, Familien, Bedürfnisse ändern sich, weshalb keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Das OLG Frankfurt erwähnt

  • Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien
  • Anpassungen aus dem Kindeswohl heraus

Auch der Kindeswille wird hier eine herausragende Bedeutung haben.

Triftige Gründe

Was sind also nun diese triftigen Gründe? Eine klare Definition wird es nie geben; dazu ist Familienrecht zu einzelfallbezogen.

Als Begründung für die Beschränkung auf triftige Gründe führt der Münchener Kommentar aus;

Obwohl sorge- und umgangsrechtliche Entscheidungen bzw. gerichtlich gebilligte Vergleiche nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, erlaubt Abs.1 keine beliebige Wiederaufnahme des Verfahrens. Zum einen soll das Kind möglichst Erziehungskontinuität erfahren. Zum anderen ist jede Änderung des Eltern-Kind-Verhältnisses ein Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Elternautonomie (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und bedarf deshalb einer Rechtfertigung. Der Gesetzgeber hat sich für eine kontinuierlich am Kindeswohl orientierte Eingriffsmöglichkeit entschieden und bei der Neufassung des Abs. 1 durch das KindRG 1998 die von der Rechtsprechung entwickelte Formel übernommen, wonach die Änderung aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sein muss.

MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 23

Dieser Prüfungsmaßstab wird daher auch „qualifizierte positive Kindeswohlprüfung1“ genannt.

Es muss daher

  • ein Änderungsgrund von solcher Bedeutung vorliegen,2
  • der den Grundsatz der Erziehungskontinuität überwiegt
  • und die mit der Veränderung verbundenen Nachteile für die Entwicklung sowie
  • die Änderung muss am generellen Bedürfnis des Kindes nach Kontinuität und Stabilität seiner Lebens- und Erziehungsbedingungen gemessen werden
  • Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor,
  • Grundlegende Wertungen, die sich aus der Erstentscheidungsnorm ergeben, müssen aber auch im Änderungsverfahren berücksichtigt werden, um einen „unerträglichen“ Wertungswiderspruch zu vermeiden

Das ist wie alle rechtlichen Wertungen erst einmal viel zu berücksichtigen und wenig konkretes. Aber dass das Gericht hier einen Bewertungsspielraum hat, wird man kaum verkennen können.

Der Wille des Kindes alleine hingegen reicht nicht aus3. Auch der Wille eines Elternteils alleine reicht nicht aus4.

EMRK-Konform

Diese Einschränkung des Abänderungsverfahrens ist auch vom EGMR als zulässig bejaht.

Denn das Ziel dieser erheblichen Einschränkung der Abänderungsmöglichkeit, Kinder vor fortwährenden Sorgerechtsverfahren zu schützen, ist zulässig i.S. der EMRK:

Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass § 1696 BGB u. a. zum Ziel hat, Kinder vor fortwäh­renden Sorgerechtsverfahren zu schützen und für eine stabile und dauerhafte Sorgesituation zu sorgen. Er ist somit auf das legitime Ziel gerichtet, die „Gesundheit“ und die „Rechte und Freiheiten anderer“ zu schützen.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Innerstaatliche Behörden haben insoweit einen erheblichen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf Art. 8 EMRK:

Aus diesen Erwägungen und im Hinblick auf den großen Beurteilungsspielraum der inner­staatlichen Behörden bei Sorgerechtsentscheidungen (vgl. u. a. S., a. a. O., Rdnrn. 64-65) ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der innerstaatlichen Gerichte angemessen und hinreichend begründet war und dem Beschwerdeführer somit den erforder­lichen Schutz seines Rechts auf Achtung seines Familienlebens zuteil werden ließ.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Folglich ist Artikel 8 der Konvention im Fall Enke gegen Deutschland nicht verletzt worden.

2. Unter Berufung auf die Artikel 6 und 14 rügte der Beschwerdeführer ferner, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte zu einer Ungleichbehandlung der Elternteile ge­führt habe.

Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die ge­rügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Das führt natürlich noch zu mehr Unsicherheit und damit zu mehr Begründungsaufwand für Euch.

Einzelfälle

In der gängigen Literatur gibt es Listen mit Einzelfällen; diese können Eure Anwälte heranziehen; wichtig ist aber nach wie vor die Herausarbeitung der Änderungen für die Kinder und die Bedeutung auf deren Entwicklung.

Die folgende Liste ist nicht abschließend5:

  • der erfolgreiche Abschluss einer Familientherapie (AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg FamRZ 2004, 134, im konkreten Fall allerdings ein Anwendungsfall von Abs. 2),
  • eine wiederholte Verletzung des Kindesrechts auf gewaltfreie Erziehung (OLG Jena FamRZ 2005, 52 (53)),
  • die Uneinsichtigkeit des Sorgeberechtigten bei der Ernährung des noch nicht schulpflichtigen Kindes sowie die mangelnde Befolgung ärztlicher Anordnungen über die medikamentöse Behandlung (KG NJW-RR 1990, 716) oder sonstiger medizinisch indizierter Maßnahmen (OLG Hamm FamRZ 1979, 855),
  • ein grenzenloses Omnipotenzverhalten des Sorgeberechtigten, das den Kindern keine Chance zu eigenständiger Entwicklung lässt (OLG Frankfurt FamRZ 2005, 1700),
  • eine ansteckende Krankheit des Sorgeberechtigten (OLG Hamm ZBlJR 1955, 138 (139)),
  • unkontrollierte Drogen- und Alkoholabhängigkeit (OLG Naumburg OLGR 2009, 209 = FamRZ 2009, 433 Ls.),
  • psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile (AG Flensburg BeckRS 2018, 44237 Rn. 13 ff.; zur wachsenden Erziehungsfähigkeit eines Elternteils bei sich stabilisierendem psychischen Zustand OLG Brandenburg BeckRS 2020, 22435 Rn. 25),
  • schulische Gründe (OLG Brandenburg FamRZ 2014, 1859: fehlende Unterrichtsmaterialien aufgrund wechselnden Umgangs; OLG Saarbrücken FamRZ 2012, 646: Einschulung),
  • eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Umgangspflegerin mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie (AG Frankfurt FamRZ 2020, 839 (840) = JAmt 2020, 266),
  • die Ansteckungsgefahr von Kindern in Kindertagesstätten während der Covid-19-Pandemie (AG München FamRZ 2020, 1178 mAnm Rake).

Was hier vor allem fehlt ist aber auch eine nicht realisierte Hoffnung aus einem familienpsychologischen Gutachten oder realisierte Bedenken aus einem familienpsychologischen Gutachten. Auch Indizien für die Belastung des Kindes, andauernde Manipulation und ähnliches kann einen solchen triftigen Grund darstellen.

Gerne könnt Ihr Euch in der Hotline des Vereins Erzengel kostenfrei beraten lassen zu diesem Thema:

  1. MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 24, 25 ↩︎
  2. MüKo aaO ↩︎
  3. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1696 Rn. 16-18 ↩︎
  4. OLG Hamm FPR 2002, 270 ↩︎
  5. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1696 Rn. 19-29 ↩︎
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Recht allgemein

Mündliche Verhandlung in der Beschwerde

Mündliche Verhandlung in der Beschwerde sind grundsätzlich verpflichtend. Nur in Ausnahmefällen kann man davon absehen. Oftmals wird aber formelhaft davon abgesehen, weil „keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“ Das ist im Gesetz so vorgesehen, allerdings sollte man hier immer besonderes Augenmerk auf diese Argumentation legen, weil diese mit der EMRK in Widerspruch stehen könnte. Zudem bedeutet diese Rechtslage auch, dass es Eure Aufgabe ist, sicherzustellen, dass ihr nach der erstinstanzlichen Entscheidung neue Aspekte anführt. So wird dem Beschwerdegericht die Chance genommen, auf die mündliche Verhandlung zu verzichten.

Mündliche Verhandlung in der Beschwerde gem. §68 FamFG

„(3) Das Beschwerdeverfahren bestimmt sich im Übrigen nach den Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug. Das Beschwerdegericht kann von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“

Eigentlich spricht Satz 2 deutliche Worte, die einfach verständlich sind. Mündliche Verhandlung in der Beschwerde ist also die Regel, das Absehen die Ausnahme. Leider wird genau dieser Satz als pauschaler Baustein oft genutzt, um Elternrechte auszuschalten. Wenn es neue Fakten nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gab oder in der Kindesanhörung Fragen offen geblieben sind, auch fachpsychologische Fragen ungeklärt sind, dann muss eine mündliche Verhandlung stattfinden.

Kommentarliteratur zur mündlichen Verhandlung

Zitieren wir die Kommentarliteratur hierzu:

Es kann von einer Beweisaufnahme oder einzelnen Verfahrenshandlungen abgesehen werden,

„wenn dies bereits in der ersten Instanz ordnungsgemäß durchgeführt wurde und von einer erneuten Vornahme keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind. So kann von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen werden, wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtlichen Gesichtspunkte ergeben…“

zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 39 zu §68 FamFG.

Ordnungsgemäß heißt auch vollständige Beweisaufnahme, was sich aus dem Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 GG ergibt.

Anhörungen sind danach vorzunehmen, wenn Bedenken an die Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen bestehen.

zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.

Wie bei einer Gehörsrüge muss man also schauen, ob das Gericht verschiedene Aspekte übersehen hat, und hierzu in der Beschwerde vortragen.

Dies gilt insbesondere, wenn wesentliche neue Tatsachen zu erörtern sind, die in der ersten Instanz noch nicht zur Sprache gekommen sind,

zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.

Dieses Argument steuert ihr über einer Beschwerdevorbringen: Einfach vortragen, was an neuen Erkenntnissen bestehen.

„Wenn sich seit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung neue Gesichtspunkte ergeben haben, muss der Beteiligte bzw. Betroffene erneut angehört werden (BGH BeckRS 2010, 17681 Rn. 9 für das Abschiebungshaftverfahren; BGH NJW 2011, 2365 Rn. 13 für das Unterbringungsverfahren).“

zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44b

Es besteht also eine Pflicht, Beteiligte zu neuen Erkenntnissen anzuhören. Und schriftlich rechtliches Gehör gewähren reicht insoweit nicht aus!

Dann jedenfalls eignet sich der Sachverhalt nicht mehr für eine Entscheidung nach Aktenlage:

„Der Sachverhalt muss sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignen, woran es fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur aufgrund einer durch unmittelbare Anhörung des Beteiligten gewonnenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können (BGH FGPrax 2010, 290 Rn. 9).“

zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44a

Daher muss eine mündliche Verhandlung stattfinden. „Solche Umstände“ sind daher auch Wertungen der Eltern oder Meinungen des Kindes.

„Erforderlich ist die erneute Anhörung, wenn die Entscheidung zum Nachteil des Betroffenen geändert werden soll (OLG Frankfurt a. M. BtPrax 1997, 73), wenn wesentliche neue Tatsachen vorgetragen werden (OLG Celle NdsRpfl 1995, 353); auch wenn der Betroffene beim erstinstanzlichen Anhörungstermin die Kommunikation mit dem Richter verweigert (BGH NJW 2016, 2650: Aufhebung einer Betreuung), wenn im ersten Rechtszug bei der Anhörung zwingende Verfahrensvorschriften verletzt wurden (BGH NJW 2011, 2365: Betroffener im Unterbringungsverfahren; NJW 2012, 2584).“

zitiert nach Bumiller/Harders/Schwamb/Bumiller FamFG § 68 Rn. 4-7

Die Ermittlungen müssen „erschöpfend“ sein.

„Gemäß Abs. 3 S. 2 kann das Beschwerdegericht in allen Verfahren nach dem FamFG – auch in Ehe- und Familienstreitsachen – nach pflichtgemäßem Ermessen von der Wiederholung erstinstanzlicher Verfahrenshandlungen absehen, soweit der Sachverhalt in erster Instanz erschöpfend und verfahrensgerecht ausermittelt worden ist und eine erneute Vornahme nicht zu neuen Erkenntnissen führen würde. Dies betrifft auch die mündliche Verhandlung.“

zitiert nach MüKoFamFG/A. Fischer FamFG § 68 Rn. 6-8

Gemeint sind also gesicherte Ermittlungsgrundlagen, wozu das BVerfG bereits ausführlich und verbindlich Stellung genommen hat und worüber ich hier berichtet habe. Das gilt auch für einstweilige Anordnungen.

Bundestagsdrucksachen zu §68 FamFG und zur mündlichen Verhandlung in der Beschwerde

Der Bundestag hat hierzu ausgeführt unter Berücksichtigung der verbindlichen Rechtsprechung des EGMR und der Verbindlichkeit der EMRK (vgl. BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 42-45):

„Diese Neuregelungen sind mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Die Menschenrechtskonvention enthält zwar den Grundsatz der mündlichen Verhandlung für alle streitigen Zivilverfahren, worunter nach der Rechtsprechung des EGMR auch Ehesachen, Kindschaftssachen und Unterbringungssachen fallen (vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2006, Rn. 8 zu Artikel 6). Es ist aber nach der Rechtsprechung anerkannt, dass der Staat eine Fallgruppe hiervon zum Schutz der Moral, der öffentlichen Ordnung, zum Jugendschutz oder zum Schutz des Privatlebens ausnehmen kann (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 63). Für Rechtsmittelinstanzen gilt auch nach der Rechtsprechung des Euro- päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass von der mündlichen Verhandlung abgesehen werden kann, wenn in der ersten Instanz eine solche stattgefunden hat und es nur um die Zulassung des Rechtsmittels geht oder nur eine rechtliche Überprüfung möglich ist. Eine zweite mündliche Verhandlung ist nach der Rechtsprechung des EGMR auch bei Entscheidungen über Tatsachenentscheidungen entbehrlich, wenn ohne eigene Tatsachenermittlungen aufgrund der Aktenlage entschieden werden kann, nicht aber wenn der Fall schwierig ist und die tatsächlichen Fragen nicht einfach sind und erhebliche Bedeutung haben (Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 66). Bei Absatz 3 Satz 2 handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Das Gericht hat die Vorschrift konform mit der EMRK auszulegen und bei der Ausübung des Ermessens auch die Rechtsprechung des EGMR hierzu zu beachten.“

zitiert nach BT-Drs. 16/6308, 207, 208

Das Ermessen des Gerichts muss also richtig gebrauchen. Im Verwaltungsrecht sind als Fehler anerkannt  Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung, und die Verhältnismäßigkeit. Bausteine werden immer Ermessensnichtgebrauch sein.

Keine mündliche Verhandlung in der Beschwerde verletzt Art. 6 EMRK und Art. 103 GG, wenn neue Aspekte entstanden sind oder alte Aspekte nicht umfangreich gewürdigt sind. Es liegt an Euch, hierzu erschöpfend vorzutragen und eine Verhandlung zu erzwingen!

Michael Langhans, Volljurist

Die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung in FamFG Sachen verletzt daher das faire Verfahren nach Art. 6 EMRK, wenn entweder neue Tatsachen nach Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sind, auf die es ankommt, oder wenn in erster Instanz nicht bereits alle Aspekte ausreichend gewürdigt sind, was einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör darstellt. Hierzu habe ich in meinem Artikel zur Anhörungsrüge auch vorgetragen.

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Recht allgemein

Erfolg: Jugendamt lügt, Umgangsausschluss aufgehoben

Erfolg auf ganzer Linie: Wenn das Jugendamt lügt und man es richtig macht, dann wird auch ein Umgangsausschluss aufgehoben. Das habe ich für den Verein Erzengel in Kooperation mit dem Verein „Nein lass das!“ bewiesen.

Erfolgsmeldung des Vereins

Bemerkenswert ist dabei die wichtige Aussage des Gerichts:

„Insbesondere haben sich die Ausführungen des Jugendamtes (…) als unzutreffend erwiesen.

Was man tun sollte, wenn das Jugendamt lügt, könnt ihr hier nachlesen. Dann muss ein Umgangsausschluss aufgehoben werden oder eine Sorgerechtsmaßnahme.

Ihr könnt aber auch eine kostenfreie telefonische Beratung des Vereins Erzengel buchen oder zusammen mit unseren Anwälten die Wahrheit erstreiten. Leider wissen viele Anwälte nicht, wie das geht. Wir und unsere Anwälte hingegen schon.

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Recht allgemein

Vortrag „Gutachten im Familienrecht aus juristischer Sicht“

Ich halte am 23.02.2023 ab 19 Uhr einen Vortrag „Gutachten im Familienrecht aus juristischer Sicht“ online auf Zoom ab. Dies ist eine Kooperation mit Vater Rat von Stephan Gutte. Teilnehmen kann jeder, für Mitglieder von Vater Rat ist die Teilnahme kostenlos. Mehr Infos oder Anmeldungen könnt ihr Euch per eMail an Stephan Gutte.

Inhalt Vortrag Gutachten im Familienrecht

Der grobe Inhalt wird ungefähr so ausgerichtet sein und in drei Komplexe geteilt sein:

  1. Vor Beginn eines Gutachtens: Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, Sachverhalt sicher- und richtigzustellen und Freiwilligkeit der Teilnahme mit Vor- und Nachteilen, aber auch Vorbereitung auf ein Gutachten.
  2. Während des Gutachtens: Wie kann ich während der Begutachtung prozessual Einfluss nehmen und das vorbereitete einbringen
  3. Nach schriftlicher Vorlage des Gutachtens: Typische rechtliche und wissenschaftliche Fehler, wie diese angehen, wann Gutachter ablehnen, wie neue Entwicklungen einbringen, Haftungsklagen

Wie mit Stephan besprochen, werde ich die Inhalte auch nach Euren Wünschen ausgestalten, so dass ich fleissig um Mitteilung bitte, welche konkreten Fragen beantwortet und welche Schwerpunkte gesetzt sein sollten.

Was ist Vater Rat?

Vater Rat bzw. Eltern Rat – die Webseite und das Netzwerk steht jedermann offen – zur Information, Selbsthilfe, Beratung und Vernetzung. Es werden regelmäßige Austauschtreffen organisiert, unter anderem eben auch die Fachvorträge.

Der Vortrag von mir ist eine Kooperation von Vater Rat mit unserem Verein Erzengel. Die Inhalte des Vortrag „Gutachten im Familienrecht aus juristischer Sicht“ sind die Quintessenz meiner Webseite Gutachten anfechten und Familienrecht by Michael Langhans. Insbesondere wird auch auf die dritte Auflage des Buches „Fehler in Gutachten erkennen“ Bezug genommen. Dieses erscheint Ende Februar 2023.

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Recht allgemein

Neue Videos als Shorts

Liebe Leser, es gibt neue Videos als Shorts auf YouTube, Instagram Reels und TikTok. Für alle, die weniger gern lesen, ist das wesentliche aus meinen Artikeln hier nun als Videos verfügbar. Ich würde mich freuen, wenn Ihr reinschaut:

Ihr könnt diese Videos auch als Reels auf Instagram oder auf TikTok abrufen. Ich würde mich über Feedback auch auf den entsprechenden Kanälen freuen.

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Recht allgemein

DSGVO und FamFG

DSGVO und FamFG sind in dieser Verbindung Themen, die bisher kaum kommentiert und beachtet sind. Entsprechend viele Gerüchte gehen hinter der Hand herum, wie man mit der DSGVO familienpsychologische Gutachten nach FamFG aushebeln könne. Der Verfahrensbeistand dürfe ebenfalls keine Akteninhalte sammeln. Was ist dran an diesen Meinungen? Gibt es die Möglichkeit, mit DSGVO und FamFG Gutachten zu verhindern und Verfahren zu ändern? Und wird ein Gutachten anfechtbar durch Verstoß gegen die Datenminimierungspflicht?

Wir betrachten die aktuellen Diskussionen und Literatur zum Thema.

DSGVO und FamFG

Seit der Einführung der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO oder DSGVO abgekürzt) herrscht in Deutschland ein Bild der Unsicherheit. Gerade die Affäre um Google Fonts hat gezeigt, dass einige wenige listigerweise Versuchen, Kapital aus dieser Unsicherheit zu schlagen. Kern des Themas ist, dass viele Spezialaspekte in der DSGVO und den Gesetzesmaterialien nicht zureichend ausgearbeitet sind.

Insgesamt geht es also – neben der Bemessung der Höhe eines Bußgeldes gem. Art. 82 DSGVO – um die Präzisierung des Umfangs des Schutzes besonderer Kategorien personenbezogener Daten (hier: Gesundheitsdaten) gem. Art. 9 DSGVO. Denn der aus dem Text der DSGVO bzw. aus deren Erwägungsgründen allein geht dies wie so oft leider nicht klar und deutlich hervor.

Dr. Datenschutz

Das betrifft Aspekte der Akteneinsicht und Aktenkopie, Umfang von Gutachten und der Frage, wer überhaupt welche und wieviele Daten erheben darf.

Wenig höchstrichterliche Rechtsprechung

Aufgrund der relativen Neuheit der rechtlichen Probleme gibt es nur wenige Entscheidungen von deutschen Bundesgerichten oder vom EuGH, der letztlich über die Auslegung der DSGVO entscheidet anhand des Unionsrechts. 2021 hat der BGH zur Reichweite von Akteneinsicht und Auskunft nach DSGVO Stellung genommen (VI ZR 576/19, Video zur Entscheidung hier). Aktuell liegt ein Vorabersuchen des BAG beim EuGH vor, wie weit medizinische Daten durch den MDK im Hinblick auf Art. 9 DSGVO erhoben werden dürfen. Literatur gibt es zu den spezifischen Themen des Familienrechts auch nur wenige. Daher ist dieser Artikel vorallem meine persönliche Meinung, begründet anhand der aufgeführten Quellen und Argumente. Ohne eine klare, umfassende Rechtsprechung des EuGH werden wir insoweit keine Rechtsklarheit bekommen. Wer etwas anderes behauptet, spielt insoweit kein faires Spiel.

Darf ein Sachverständiger nach DSGVO und FamFG meine Daten erheben?

Grundsätzlich müssen Gutachter in Verfahren das Gutachten erstellen, was sich aus §30 I FamFG i.V.m. §407 ZPO ergibt. Daher liegt ein Rechtfertigungsgrund nach Art. 6 I 1 c. DSGVO vor (vgl. Weber in Auswirkungen der DS-GVO für Berufsbetreuer und Sachverständige in Kindschaftssachen in NZFam 2018, 865).

Pflicht zur Gutachtenserstellung ist Rechtfertigungsgrund nach Art. 6 I DSGVO

Weber in NZFam 2018, 865

Anderer Ansicht ist insoweit Wirwohl: Alles neu macht die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)? in DS 2018, 236. Sie tritt vorallem dafür ein, dass eine konkrete oder konkludente Einwilligung zur Datenerhebung vorliegen müsse. Der §404a ZPO, der früher den §1 BDSG verdrängte, ist nicht mehr einschlägig, so ihre Auffassung, die Weber ablehnt.

Gleichwohl müssen auch nicht alle Daten aus Gutachten entfernt werden, so Wirwohl.

Daten in Sachverständigengutachten sind eine Frage der Praktikabilität

Wirwohl in DS 2018, 236)

Bedenklich ist, dass Wirwohl eine sofortige Beschwerde gegen Beweisbeschlüsse sieht, die es so nicht gibt, weil das richtige Mittel die Gegenvorstellung ist. Sie sieht aber in der Prozessteilnahme eine konkludente Einwilligung:

Ohne die Verwendung der für das Sachverständigengutachten notwendigen Daten,
könnte dieses nicht erstellt werden, s. Art 7 IV DSGVO. Es ist mithin von einer konkludenten Einwilligung der Prozessparteien bezüglich der Verwendung ihrer personenbezogenen Daten in Sachverständigengutachten auszugehen.

Wirwohl in DS 2018, 236

Praktikabilität berücksichtigen

Jedenfalls wird sich die Frage von berechtigten Interessen stellen i.S. Art. 6 I f DSGVO.

Ohne Daten in Gutachten oder Verfahren wäre der Rechtsstaat ausgehebelt. Was wenn ein Mörder der Verwendung seiner DNA in einem Gutachten widersprechen könnte, was wenn ein Kinderschänder sich gegen die Einführung eines Videos im Umgangsausschlussverfahren wehrt?

Grundrechtsabwägung und DSGVO

Richtigerweise ist also eine Abwägung der einzelnen Grund- und Rechtspositionen vorzunehmen. Das OLG Düsseldorf hat in dem Rechtsstreit einer dritten Person gegen ein Familienpsychologisches Gutachten hierzu ausgeführt:

Die nach den Maßstäben der DS-GVO zu beurteilende Frage, ob die die Kl. betreffenden Daten rechtswidrig erlangt worden waren, ist danach bei der Abwägung i.R.d.
allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu berücksichtigen.

OLG Düsseldorf, 16 U 269/20

Und weiter unter Bezugnahme auf das BVerfG:

Da die Mitteilung personenbezogener Daten einerseits die Rechte der betroffenen Person gem. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG u. Art. 8 EMRK berührt, andererseits aber durch die Kommunikationsfreiheit sowie Wissenschaftsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 u. Abs. 3 GG u. Art. 10 EMRK geschützt wird, wirft dies die Frage auf, ob sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für solche Kommunikationsvorgänge, die zugleich einen Ausgleich i.S.e. praktischen Konkordanz
zwischen den kollidierenden Rechtspositionen schaffen müssen, aus dem Datenschutzrecht oder dem zivilrechtlichen Äußerungsrecht oder beiden Regelungsregimen ergeben (vgl. Lauber-Rönsberg, AfP 2019, 373).

OLG Düsseldorf, 16 U 269/20

Es kommt also auf eine Gesamtbetrachtung an. Dabei sind im familiengerichtlichen Verfahren die Fragen des Wohles des Kindes, die Tatsache dass ein Streit geführt wird in der Kindschaftssache, die Wissenschaftsfreiheit (Gutachten sind eine wissenschaftliche Arbeit, aA die GWG) und mehr zu betrachten. Ansonsten wäre auch eine Pressefreiheit nicht mehr gewährleistet.

Ich folge also der Auffassung von Weber, dass ein Gutachten grundsätzlich auch ohne Einwilligung erstellt werden darf. Dies ergibt sich aus spezialgesetzlichen Regelungen, die m.E. im Einklang mit der DSGVO stehen.

Datenminimierung und Gutachten nach DSGVO

Von der Frage, ob der Gutachter etwas schreiben darf, ist streng die Frage zu unterscheiden, wieviel er schreiben darf. Früher gab es den Aspekt der Datensparsamkeit, heute nennt sich das Datenminimierung in der DSGVO (Art. 5 I c DSGVO).

Unmittelbare Folge ist auch die Frage der Datenrichtigkeit, was zu einem Löschungs- und Berichtigungsanspruch führt (vgl. Weber aaO).

Dies sind zwei der relevantesten Themen. Ich stelle bei meinen kritischen Gutachtensrezensionen ja insbesondere auf falsche Datenerhebungen ab. Der BGH lässt ein Gutachten, das falsche oder ungeklärte Anknüpfungstatsachen beinhaltet, in der Regel unverwertbar sein.

Eine Einwilligung bei der Begutachtung ist nicht erforderlich (eine Pflicht zur Teilnahme besteht ja nicht). Dies kann gegebenenfalls aber bei besonders sensiblen Daten anders sein (vgl. Weber aaO):

Für besondere Daten nach Art. 9 I DS-GVO greift Art. 9 II lit. f DS-GVO als Rechtfertigungsgrund ein.

Weber, Auswirkungen der DS-GVO für Berufsbetreuer und Sachverständige in Kindschaftssachen(NZFam 2018, 865)

Gegen die Verwertung von Informationen aus der Gerichtsakte kann man sich nicht wehren:

Die Beteiligten sind im Verfahren nicht verpflichtet, an einer Begutachtung mitzuwirken; [Fn. 22: Vgl. Fahl NZFam 2015, 848 (849); Weber NZFam 2018, 510 (517).] sie können sich zwar der Verwertung der bereits in der Gerichtsakte befindlichen Daten durch den Gutachter nicht erwehren, können aber nicht zwangsweise zur Erhebung weiterer Daten durch den Sachverständigen
angehalten werden.

Weber aaO

Berichtigungsanspruch bei falschen Daten i.S. DSGVO?

Aktualisierung 16.01.2023: Unter Berücksichtigung dieser obigen Aspekte muss dann aber auch ein Datenberichtigungsanspruch gem. Art. 16 DSGVO anerkannt werden. Denn unrichtige Daten sind eben abzuändern oder ggf. gar zu löschen (Art. 17 DSGVO). Der Rechtfertigungsgrund wie oben dargestellt bezieht sich nur auf die Frage, ob Daten erhoben werden dürfen. Das heißt nicht, dass falsche Daten erhoben werden dürfen.

Nicht alle Daten dürfen erhoben werden

Natürlich heißt das nicht, dass der Gutachter dann nach belieben Fragen zu allen Themen stellen darf. Denn die Fragen sind durch den Beweisauftrag des Gerichtes vorgegeben, darüber hinausgehende Fragen und Unterlagen hat der Gutachter nicht zu erheben und zu verwerten, weil diese gegen die Pflicht zur Datenminimierung verstößt (Weber aaO).

EuGH und BAG und besondere Daten

Insoweit dürfte mit Spannung die Entscheidung des EuGH zu MDK Gutachten werden, die das Bundesarbeitsgericht nach Art. 267 AEUV vorgelegt hat. Denn die Interessenlage ist absolut vergleichbar zu familienpsychologischen Gutachten:

Die Anfrage des BAG nach Art. 267 AEUV

Die Anfrage des BAG lautet wie folgt:

I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Fragen ersucht:

1. Ist Art. 9 Abs. 2 Buchstabe h DSGVO dahin auszulegen, dass es einem Medizinischen Dienst einer Krankenkasse untersagt ist, Gesundheitsdaten seines Arbeitnehmers, die Voraussetzung für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit dieses Arbeitnehmers sind, zu verarbeiten?

2. Für den Fall, dass der Gerichtshof die Frage zu 1. verneinen sollte mit der Folge, dass nach Art. 9 Abs. 2 Buchstabe h DSGVO eine Ausnahme von dem in Art. 9 Abs. 1 DSGVO bestimmten Verbot der Verarbeitung von Gesundheitsdaten in Betracht käme: Sind in einem Fall wie hier über die in Art. 9 Abs. 3 DSGVO bestimmten Maßgaben hinaus weitere, gegebenenfalls welche Datenschutzvorgaben zu beachten?

3. Für den Fall, dass der Gerichtshof die Frage zu 1. verneinen sollte mit der Folge, dass nach Art. 9 Abs. 2 Buchstabe h DSGVO eine Ausnahme von dem in Art. 9 Abs. 1 DSGVO bestimmten Verbot der Verarbeitung von Gesundheitsdaten in Betracht käme: Hängt in einem Fall wie hier die Zulässigkeit bzw. Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von Gesundheitsdaten zudem davon ab, dass mindestens eine der in Art. 6 Abs. 1 DSGVO genannten Voraussetzungen erfüllt ist?

(…)

Quelle BAG 8 AZR 253/20 (A)

Die schadensersatzrechtliche Komponente habe ich außen vorgelassen.

Darf ein Gutachter besondere Daten zu Ethnie, politischer Einstellung, Gesundheit usw. ohne eine Einwilligung erheben?

Kernfrage der Vorabentscheidungsanfrage des BAG an den EuGH

Praktische Relevant nach FamFG

Diese Frage hat bei z.B. folgenden Fragen eine praktische Relevanz:

  • Überprüfung des Haushalts und Einordnung, ob kindgerecht ist, durch Gutachter
  • Stellungnahmen zu politischen Meinungen (Querdenker, Reichsbürger, „Sektenmitglieder“, Glaube, Ideologie, Sexualverhalten ohne Bezug zum Kind (Promiskuität)
  • Projektive Tests, die die subjektive Einstellung des Gutachters und den Zeitgeist bei der Interpretation in den Vordergrund stellen
  • Lebensweisen (Hippie, Homeschooling oder Freilernen usw.)
  • Behinderungen der Eltern und Kinder

Manche dieser Fragen sind bereits aus der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung nicht zu berücksichtigen, weil sich keiner seine Familie aussuchen kann.

Andere Fragen wie die regelmäßige Beobachtung des Wohnumfelds sind durch das Gericht und nicht den Gutachter zu prüfen. Damit kann eine Kollission zu Art. 9 DSGVO vorliegen und das Prinzip der Datenminimierung verletzt sein.

Ich persönlich sehe daher auf Basis der Vorabentscheidungsanfrage, dem Aspekt der Datenminimierung und dem Aspekt des besonderen Schutzes besonderer Daten eine konkrete Begründungspflicht des Gutachters. Statt also konkret das Gutachten zu verhindern zu versuchen sollte man gegen diese einzelnen Punkte angehen, diese Fragestellungen untersagen lassen und eine Berichtigungspflicht des Gutachtens einfordern.

Ob und wie sich das nach der EuGH Entscheidung darstellen wird, bleibt abzuwarten.

Müssen Art. 6 DSGVO und zugleich Art. 9 DSGVO vorliegen?

Die rechtliche Fragestellung zu oben ist einfach, ob Art. 9 DSGVO alleine eine Datenverarbeitung zulässt oder ob dies nur zusammen mit Art. 9 DSGVO zulässig ist:

Es geht darum, ob bei der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 kumulativ vorliegen müssen oder ob eine Verarbeitung alleine auf Art. 9 DSGVO gestützt werden kann.

Dr. Datenschutz hier

Hier geht es vorallem um den Art. 9 II f. DSGVO:

die Verarbeitung ist zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen oder bei Handlungen der Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit erforderlich,

Art. 9 DSGVO

Aber auch erforderlich beschränkt Daten auf das notwendige Mindestmaß (Datenminimierung), was der Beweisbeschluss vorgibt. Fragen nach dem konkreten Zeugungsakt, wie ich sie bisweilen in Gutachten erlebe, sind danach nie verwertbar, es wird nie darauf ankommen (selbst untergeschobene Kinder sind nun einmal als Rechtssubjekt vorhanden).

Muss der Gutachter über Datenerhebung informieren?

Grundsätzlich muss jeder, der Daten erhebt, über dies informieren, Art. 13, 14 DSGVO. Doch gilt dies auch für den familienpsychologischen Gutachter?

Weber kommentiert hierzu:

Der Sachverständige ist nach hier vertretener Ansicht nicht Verantwortlicher für die
Datenverarbeitung im Rahmen der Gutachtenerstellung. Zweck und Umfang der Datenverarbeitung werden weithin durch das Gericht im Rahmen eines Beweisbeschlusses vorgegeben; das Gericht leitet weiterhin die Tätigkeit des Sachverständigen und kann diesem Weisungen erteilen, § 30 I FamFG iVm § 404 a ZPO. Die Argumentation geteilter Verantwortung ist denkbar, was allerdings wiederum auch für eine Informationspflicht auch der Gerichte den betroffenen Personen gegenüber
streitet.

Weber aaO

Ich unterstütze diese Auffassung. Denn der Sachverständige soll die Kenntnisse, die das Gericht nicht hat, unterstützend zur Verfügung stellen. Gleichwohl, wird die richterliche Arbeit auf den Gutachter delegiert (unzulässig, vgl. OLG München, Familiensenate Augsburg 30 UF 232/15), kann sich etwas anderes ergeben. Denn dann überschreitet der Gutachter seine Befugnisse.

Darf der Gutachter Namen und Verhalten Dritter aufnehmen?

Folgt man dem OLG Düsseldorf (das das Problem nicht aus datenschutzrechtlicher Sicht löst, sondern aus dem Recht zur informationellen Selbstbestimmung), dann ja:

Auch die Benennung des Klarnamens der Kl. konnte nicht unterbleiben. Aus den zivilprozessualen Vorschriften ergibt sich kein generelles Gebot zur Anonymisierung in gerichtlichen Gutachten. Für den vorliegenden Fall ergibt sich nichts anderes. Davon ausgehend, dass die Bekl. zur Vorbereitung ihres Gutachtens gehalten war, das weitere Umfeld des Kindes miteinzubeziehen sowie i.R.d. Datenerhebung unterschiedliche Datenquellen zu nutzen („multimodales Vorgehen“), oblag es ihr, die gewonnenen Informationen und ihre Quelle im Gutachten offenzulegen (vgl. OLG Frankfurt/M. B. v. 28.11.2016 – 6 WF 200/16).
Dies war vorliegend geschehen. I.S.e. umfassenden Information des Gerichts mussten
Verklausulierungen unterbleiben. Es reichte nicht aus, die Kl. ohne Namensnennung z.B. als „aktuelle Lebenspartnerin“ des Kindesvaters zu beschreiben, denn das Gericht muss auf Grund der Angaben im Gutachten in der Lage sein, die zentralen Personen, zu denen auch die Kl. zählt, eindeutig zu identifizieren und dies in einer Weise, dass auch für die Zukunft keine Zweifel entstehen konnten und sich nicht die Notwendigkeit unnötiger Rückfragen ergibt.

OLG Düsseldorf 16 U 269/20

Darf der Verfahrensbeistand Daten erheben?

Eine weitere Frage, die ich gelesen habe, war die, ob Verfahrensbeistände Daten erheben dürfen. Um es kurz zu machen: Sie dürfen. Der Verfahrensbeistand nimmt die Interessen des Kindes wahr in der Gewährleistung des Art. 1 I GG. Damit liegt eine gesetzliche Handlungspflicht vor, so dass die Rechtfertigungsnorm des Art. 6 I 1 c DSGVO greift (vgl. Weber aaO).

die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt;

Art. 6 I DSGVO

Update 26.02.2023: Dem folgt auch die Kommentierung in Kühling/Buchner:

Insoweit beziehen sich die genannten Bestimmungen auf Art. 8 Abs. 2 EMRK sowie auf Art. 7, Art. 8 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh. Vorschriften iSd Abs. 1 lit. c erlauben Eingriffe in die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Datenschutz. Derartige Grundrechtsbeeinträchtigungen sind nur zulässig, soweit sie gesetzlich vorgesehen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“
sind, um anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen zu wahren. Die eingesetzten Mittel müssen zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein und dürfen nicht über das Erforderliche hinausgehen (→ Rn. 94). [Fn. 178: EuGH Urt. v. 9.11.2010 – C-92/09, C-93/09, DuD 2011, 137 (140) mwN – Schecke. ]

Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, Auflage 2020, Rn. 89

Gola/Heckmann weisen zudem darauf hin, dass es eine gesonderte gesetzliche Pflicht geben muss, die Daten zu erheben:

Für lit. c ist eine Rechtspflicht kraft objektiven Rechts erforderlich; eine vertraglich begründete (Rechts-)Pflicht genügt nicht, wird aber im Rahmen der dann weiterhin denkbaren Interessenabwägung einzubeziehen sein.

Gola/Heckmann, Datenschutz-Grundverordnung – Bundesdatenschutzgesetz Auflage 2022

Das wiederum würde gegen eine Pflicht nach lit. c. sprechen (was aber auch für lit. e. gelten würde).

Insoweit wird der VB in der Regel auch nur Informationen des Kindes und des Naheumfeldes des Kindes, was dem Kind bekannt ist, erheben und weitergeben. Natürlich nicht umfasst wären hier Ermittlungen im Umfeld der Familie (Nachbarn anrufen usw.)

Andere Stimmen meinen, Art. 6 I 1 Lit. e DSGVO wäre einschlägig. Das scheitert m.E. daran, dass keine Übertragung staatlicher Aufgaben i.S. dieser Norm vorliegt:

“ Denn Abs. 1 lit. e verlangt nach einer im öffentlichen Interesse liegenden „Aufgabe“, die dem Verantwortlichen „übertragen wurde“. Dabei ist insbesondere an Aufgaben gedacht, die in den Mitgliedstaaten klassischerweise als Staatsaufgaben verstanden und administrativ ausgeführt werden.“

Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, Auflage 2020, Art. 6 Rn. 114

Diese anderen Stimmen verkennen zudem, dass selbst bei einem Widerspruch, der zudem unzulässig ist wenn  die Verarbeitung der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen dient, Art. 21 I DSGVO, und keine Löschung erfolgen muss, Art. 17 III DSGVO.

Anderslautende Aussagen sind schlicht falsch.

Für Anwälte wird zudem vertreten, dass Lit. f. anwendbar wäre, vgl. Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG. Das führt zwar auch zu einem Widerspruch nach Art. 21 DSGVO, der aber ebenso wie bei e. unzulässig ist aufgrund der Geltendmachung, Verteidigung von Rechtsansprüchen.

Habe ich einen Anspruch auf Aktenkopie aus der DSGVO

Zu diesem Thema hatte ich bereits Stellung genommen („Habe ich das Recht auf Akteneinsicht beim Jugendamt?„).

Deutschmann schreibt in Datenschutzrechtliche Auskunftsansprüche gemäß Art. 15 DS-GVO gegenüber Zivilgerichten in ZD 2021, 414 folgendes:

„Sowohl § 299 ZPO als auch § 13 FamFG differenzieren danach, wer die Einsicht in eine Akte begehrt: Prozess- bzw. Verfahrensbeteiligten steht nach § 299 Abs. 1 ZPO bzw. § 13 Abs. 1 FamFG in allgemeines Akteneinsichtsrecht zu. Dieses ist Ausdruck des verfassungsrechtlich vorbehaltlos [Fn. 3: Schulze-Fielitz, in: Dreier, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 1 GG Rn. 83 mwN.] – wenn auch nicht schrankenlos – gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör [Fn. 4: BVerfGE 18, 399 (405); 63, 45 (60); Remmert, in: Maunz/Dürig, 93. EL Okt. 2020, Art. 103 GG Abs. 1 Rn. 87.], weshalb die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht zu Gunsten von Verfahrensbeteiligten nicht im Ermessen des Gerichts steht. [Fn. 5: Vgl. BVerfG NJW 1965, 1171 f.]“

Deutschmann aaO

Keine Einschränkung Akteneinsicht durch DSGVO

Und deutlicher:

Wie aus Erwägungsgrund 20 S. 1 Hs. 1 DS-GVO folgt, gilt die DS-GVO grundsätzlich auch für die Tätigkeiten der Gerichte und Justizbehörden. Zwar können Mitgliedstaaten Regelungen betreffend die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden treffen (Erwägungsgrund 20 S. 1 Hs. 2 DS-GVO; vgl. hierzulande z.B. §§ 12 ff. EGGVG), doch bedeutet dies nicht, dass der nationale Gesetzgeber die Justiz per se vom Anwendungsbereich der DS-GVO ausnehmen könnte. Eine generelle Bereichsausnahme für die Datenverarbeitung in der Justiz folgt insbesondere nicht aus Art. 2 Abs. 2 lit. a DS-GVO.

Deutschmann aaO

Kostenfreie Kopie nach DSGVO der Gerichtsakte

Deutschmann

Das einzelgesetzliche Akteneinsichtsrecht wird durch die DSGVO also gestärkt, wobei beide Konstrukte nebeneinander gelten. Doch eine Besonderheit arbeitet Deutschmann hervor: Die Kostenfreiheit der Aktenkopie:

Eine Parallelisierung der datenschutzrechtlichen Auskunftsansprüche mit den Bestimmungen der nationalen Prozessordnungen dahin, dass ein Betroffener, der den Auskunfts- und Kopieanspruch gegenüber dem Gericht geltend macht, analog zu den Vorschriften zur Akteneinsicht z.B. die Geschäftsstelle aufsuchen und für Kopien Gebühren entrichten muss, ist nicht angezeigt und wäre europarechtswidrig. Zwar kann der nationale Gesetzgeber auf Grund der Öffnungsklausel des Art.
23 Abs. 1 lit. f DS-GVO die Geltung der DS-GVO hinsichtlich der Betroffenenrechte (Art. 12 bis 23 und 5, 34 DS-GVO) beschränken, doch steht dies unter der Voraussetzung, dass dies eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und dem Schutz von Gerichtsverfahren darstellt.

Deutschmann aaO

Herausgabepflicht gerichtsinterner Unterlagen

Sein Fazit: Auch gerichtsinterne Unterlagen sind herauszugeben:

De lege lata sind auch gerichtsinterne Aufzeichnungen zu beauskunften, denn eine Einschränkung des Auskunfts- und Kopieanspruchs hat der deutsche Gesetzgeber in Bezug auf gerichtsinterne Dokumente nicht vorgesehen.

Deutschmann aaO

Dasselbe hat der BGH für Versicherungen bereits entschieden (s.o.)

Mit Ausnahme der Auffassung, dass auch Entwürfe von Entscheidungen herauszugeben sind, teile ich diese Auffassung. Entwürfe von Urteilen herauszugeben würde den Rechtsstaat erheblich einschränken.

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Neue Beratungszeiten und -themen bei Erzengel

Der Verein Erzengel hat seine Beratungszeiten umstrukturiert.

Ab sofort sind die folgenden neuen Beratungszeiten beim Verein Erzengel zur Buchung möglich:

Montag 9 Uhr bis 19 Uhr
Dienstag 13 Uhr bis 21 Uhr
Mittwoch 13 Uhr bis 21 Uhr
Donnerstag 9 Uhr bis 19 Uhr
Freitag 9 Uhr bis 14 Uhr
Samstag nach Vereinbarung / 10 – 16 Uhr
Sonntag 14 bis 17 Uhr


Der Buchungsintervall wurde zusammen mit den neuen Beratungszeiten von Erzengel auf 30 Minuten festgesetzt, da 15 Minuten selten ausreichen.

Mitglieder können das doppelte, also 2x 30 Minuten buchen. Mitglieder können zudem an mehreren Tagen buchen, während Nichtmitglieder in der Regel auf eine Beratung beschränkt sind.

Neu sind nunmehr die Kummertermine (ohne Rechtsberatung) und Beratung zum OEG.

Fortbildungen und Onlinestammtische sind in Vorbereitung.

Neu ist außerdem der Bereich OEG / Soziales Entschädigungsrecht. Hier bieten wir nicht nur engagierte Interessenvertretung, sondern auch politisches Engagement.

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Erfolg! Polizei verweigert Herausnahme Tilmann

Wir berichteten letzte Woche über den „vermissten“ Tilmann. Zudem wiesen wir nicht ohne Grund darauf hin, dass die Polizei keine Amtshilfe für das Jugendamt ohne Herausnahmetitel machen darf. Nachdem das Kind gleichwohl einmal bei der Mutter abgegriffen wurde, erreichte die Mutter gestern mit Unterstützung des Vereins Erzengel einen echten Durchbruch: Die Polizei in Bremerhaven verweigerte Herausnahme von Tilmann nach erneutem Weglaufen des Kindes nunmehr. Kein Zwang gegen das Kind, um dieses herauszunehmen. Die zuständigen Beamten scheinen von ihrem Remonstrationsrecht gebrauch gemacht zu haben und meinen Hinweis, dass sie gar nicht zuständig sind, umgesetzt zu haben.

Folgerichtig war dann ein schnelles Hilfeplangespräch initiiert worden. Das Kind darf – nach 2 Jahren der rechtswidrigen, kindesschädigenden Entfremdung – zumindest beim großen Bruder bleiben.

Auch wenn es angesichts der vielen negativen Details, die bisher ans Tageslicht gekommen sind, ein Phyrrussieg zu sein scheint, denken wir, dass die Wende gekommen ist und Tilmann nunmehr eine echte Chance hat – dank einer Mutter, die nie aufgegeben hat zu kämpfen.

Vom Verein Erzengel wird der Neustart des Kindes mit einem Kleidergeld unterstützt – denn wirklich viel Ausstattung hatte das Kind nicht.

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