Das OLG Nürnberg hat im Beschluss 7 WF 622/23 festgehalten, dass ein Sachverständiger auch vor Gutachtensfertigstellung wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann. Voraussetzung hierzu ist ein zumindest grob fahrlässiges falsches Verhalten. Im entschiedenen Fall hatte der/die Sachverständige in einem anderen Verfahren mündlich Testergebnisse falsch dargestellt zum Nachteil einer Partei. Daher war die Besorgnis der Befangenheit berechtigt und der Gutachter abzulehnen.
Befangenheit des Sachverständigen vor Gutachtensfertigstellung
Die bisherige Rechtsprechung hatte weitgehend Gutachter nicht abgelehnt, solange kein Gutachten vorliegt. In der Tat bestehen viele Oberlandesgerichte sogar darauf, dass Fehler in der Begutachtung mit dem Rechtsmittel, also der Beschwerde, anzufechten seien und eine isolierte Anfechtbarkeit via Rüge der Befangenheit nicht möglich seien. Genau so hatte das Amtsgericht argumentiert:
„Das Amtsgericht wies den Antrag der Antragstellerin, den Sachverständigen Dr. S… wegen Befangenheit abzulehnen, mit Beschluss vom 07.07.2023 zurück. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung begründe der Vorwurf fehlerhafter Gutachtenerstellung infolge mangelnder Sorgfalt, unzureichender Sachkunde oder sonstiger Unzulänglichkeiten im Allgemeinen nicht die Besorgnis der Befangenheit, weil diese Rüge lediglich die Qualität des Gutachtens und nicht die Unparteilichkeit des Sachverständigen betreffe. Eine vorsätzliche Täuschung des Gerichts durch den Sachverständigen zum Nachteil der Antragstellerin sei nicht ersichtlich.“
OLG Nürnberg 7 WF 622/23
Da hier aber nicht sauber gearbeitet wurde, ergibt sich hier fehlende Unvoreingenommenheit:
„Das Beschwerdegericht kann nachvollziehen, dass sich für die Antragstellerin der Schluss ergibt, dass ein Sachverständiger, der im Hinblick auf ihre Diagnose bereits in einem mündlichen Gutachten nachgewiesenermaßen zu ihrem Nachteil unsauber gearbeitet hat, ihr nicht mehr ergebnisoffen gegenübertritt. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige auch in seiner mündlichen Gutachtensergänzung vom 25.11.2022 deutlich gemacht hat, dass er an seiner Einschätzung der Antragstellerin nichts geändert hat. Das Verhalten des Sachverständigen im Parallelverfahren steht in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren, in dem das schriftliche Gutachten des Sachverständigen lange überfällig ist, und ist daher geeignet, das Misstrauen der Antragstellerin im hiesigen Verfahren zu begründen.“
OLG Nürnberg 7 WF 622/23
Insoweit ist diese neue Rechtsprechung ein Meilenstein, der allerdings auch dringend notwendig ist. Wie sich diese Sichtweise in Zukunft entwickeln wird, bleibt aber abzuwarten. Es wird dabei bleiben, dass man viele Argumente sammeln und die Auswirkungen auf die fehlende Ergebnisoffenheit relevant und im Mittelpunkt der Argumentation stehen muss.
Befangenheit des Sachverständigen und Fehler im Verfahren
Folgt man der Argumentation des OLG Nürnberg, dann werden viele Sachverständige auch dann abzulehnen sein, wenn sie im selben Verfahren Fehler machen. Die dargestellten Argumente des OLG sind nämlich falsches Vorgehen zum Nachteil einer Partei. In der Tat ist der zweite Aspekt der schwierige, denn vor Gutachtenserstellung wird man kaum „zum Nachteil einer Partei“ begründen können. Sieht man aber die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht als Schutz der betroffenen Familien, dann wäre jedes Abweichen, z.B. auch die fehlende Benennung der eigenen Qualifikation, ein solcher Nachteil einer Partei.
Es bleibt also spannend, wie und ob sich die Rechtsprechung entwickeln wird. Befangenheit eines Sachverständigen wird also ein Thema bleiben, egal ob vor Gutachtenfertigstellung oder danach.
In einer Schadenersatzklage hat sich der Bundesgerichtshof zu der Frage geäußert, ob die Fachfrage nach (Pflege)Standards in einem Beweisantrag übergangen werden kann oder nicht. Die Nichteinhaltung von fachlichen Standards ist Fachfrage, die im Ergebnis das Gericht nicht aus eigener Sachkunde prüfen kann. Daher entschied der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung VI ZR 244/21 dass eine Gehörsverletzung vorliegt. Diese Entscheidung wird auch für viele Fragen der Anfechtbarkeit von familienpsychologischen Gutachten Relevanz haben.
Im entschiedenen Fall war streitig, ob ein Beweisangebot auf Einholung eines Gutachtens notwendig war oder nicht. Zum rechtlichen Gehör führt der BGH aus:
Zum rechtlichen Gehör und der Pflicht, Vortrag wahrzunehmen sowie Nichteinhalten von fachlichen Standards als Fachfrage
„Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Februar 2021 – VI ZR 44/20, VersR 2022, 66 Rn. 11; vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20, VersR 2022, 1393 Rn. 11).“
BGH vom 14.11.2023 VI ZR 244/21
Dort hatten die Ausgangsgericht überspannte Anforderungen an den Sachvortrag gestellt, die im Ergebnis eine Weigerung, Parteivortrag anzuhören, darstellt:
Überspannte Anforderungen sind eine Weigerung, Parteivortrag anzuerkennen
Dies gilt auch dann, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Eine solche nur scheinbar das Parteivorbringen würdigende Verfahrensweise stellt sich als Weigerung des Tatrichters dar, in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise den Parteivortrag zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juni 2009 – II ZR 143/08, NJW 2009, 2598 Rn. 2; Beschlüsse vom Februar 2013 – I ZR 22/12, TranspR 2013, 430 Rn. 10; vom 16. April 2015 IX ZR 195/14, NJW-RR 2015, 829 Rn. 9; vom 21. Februar 2017 – VIII ZR 1/16, NJW 2017, 1877 Rn. 10; vom 12. Oktober 2021 – VIII ZR 91/20, NJW-RR 2022, 86 Rn. 17).
BGH vom 14.11.2023 VI ZR 244/21
Fehlende Sachkunde bei Gericht
Denn die Gerichte haben bei der Beantwortung der Frage, ob Fehler vorliegen, in der Regel nicht die notwendige Sachkunde
„Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Anforderungen an den Sachvortrag überspannt, sich über den Antrag der Kläger auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob der Beklagten ein Fehler bei der pflegerischen Betreuung der Patientin unterlaufen ist, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet hat.“
BGH vom 14.11.2023 VI ZR 244/21
Bedeutung in Familiensachen
Welche Bedeutung hat nun diese Frage in Familiensachen? Viele werden sagen, dass dort ja kein Strengbeweis gilt sondern der Freibeweis und die Amtsermittlung. Gleichwohl, sobald ein Gutachten eingeholt wird, ist hierin ein Strengbeweis gegeben i.S. §30 FamFG. Doch ist die Frage, ob ein familienpsychologisches Gutachten an die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten in Kindschaftssachen gebunden ist, Rechts- oder Fachfrage? Muss also hier ein Gutachten eingeholt werden?
Meiner Auffassung nach beides. Ich selbst habe ja schon vor Monaten kolportiert, dass die Einhaltung der Mindestanforderungen eine Rechtsfrage ist, die das Gericht von Amts wegen prüfen muss (oder man holt unsere Fachexpertise ein). Kommt aber das Gericht zum Ergebnis, diese wären eingehalten – trotz gegenläufigem Vortrag eurerseits) oder es lägen Fehler vor, die aber das Ergebnis nicht bedingen, liegt eine Fachfragestellung vor, die im Ergebnis nur ein Obergutachten bewerten kann.
Ein Anhänger, der sich für mehr Qualität in familienpsychologischen Gutachten einsetzt und entsprechende Fragen nach Fehlern stellt (Aktion steht nicht im Zusammenhang mit mir oder meiner Webseite) wurde Gegenstand eines Angriff auf die Meinungsfreiheit: Ein Günter-Themen-Anhänger wurde verunstaltet, der/die Täter sind unbekannt.
Günter-Themen-Anhänger vor dem Angriff auf die Meinungsfreiheit
25.12.2023 abends
Bereits in der Vergangenheit soll, so die mir zugetragenen Informationen, eine Plane mit (derselben) Fragestellung ausgerechnet vor dem OLG Stuttgart von dem dort abgestellten Anhängers entwendet worden sein.
Nunmehr, also am 23.12.2023, wurde die Plane mit der Aufschrift „Sind Gutachten von Prof. Dr. Michael Günter fehlerhaft?“ mit Malerflies abgedeckt. Wer hat ein Interesse daran, einen harmlosen Anhänger so zu verunstalten? Wer hat ein Interesse daran, andere Meinungen nicht zuzulassen?
Günter-Themen-Anhänger nach dem Angriff auf die Meinungsfreiheit
26.12.2023 vormitttags
Fragen über Fragen. Hinweise, die zur Aufklärung beitragen können, bitte an mich. Ich leite diese gerne weiter. Ich möchte diesen Artikel, der sich um den Angriff auf die Meinungsfreiheit dreht, weil ein Günter-Themen-Anhänger verunstaltet wurde, mit dem folgenden Zitat beenden:
Unter diesem Motto stand eine „Hommage zum 100. Geburtstag von Reinhart Lempp“, bei dem Reinmar du Bois einen Vortrag hielt und Prof. Dr. Michael Günter die Moderation übernahm – zwei Experten auf Kinderpsychiatrischem Gebiet:
Ich hatte ja bereits in Artikeln die Frage gestellt, ob Gutachten von Prof. Dr. Michael Günter fehlerhaft sind und auch zur Gutachterstelle Stuttgart Stellung bezogen. Heute möchte ich Euch an drei Beispielen zeigen, wie offenkundig ab und an fehlerhaft Gutachten der beiden Professori Prof. Dr. Michael Günter und Prof. Dr. Reimar du Bois oder von Dr. Arnscheidt von der Gutachterstelle Stuttgart sein können. In Gutachten Günter, Arnscheidtt und du Bois finden sich Fehler, die man finden kann, wenn man danach sucht.
Auszug aus den Mindestanforderungen
Zu aller erst möchte ich euch einen Auszug aus den Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten in Kindschaftssachen vorstellen, der für das weitere Verständnis wichtig ist. Ich hatte bereits in diversen Artikeln zu den Mindestanforderungen geschrieben und 5 Gründe genannt, warum diese wichtig sind.
Auf Seite 13 werden hierzu formelle Anforderungen definiert. Unter anderem steht dort geschrieben:
„Das Gutachten muss von dem beauftragten Sachverständigen persönlich und mit Datum versehen unterschrieben sein.“
Eigentlich ist das doch einfach verständlich, oder? Um diesen Satz zu verstehen, muss man nicht studiert haben. Und trotzdem, es scheint eine nicht unerhebliche Hürde zu sein, wie mir drei Beispiele zeigen. Günter, Arnscheidt und du Bois schaffen es eben nicht, diese Hürde zu nehmen.
Michael Günter unterschreibt Gutachten nicht immer
Prof. Dr. Michael Günter unterschreibt eben nicht immer alle Gutachten:
Den Co-Gutachter habe ich verpixelt, um den soll es hier nicht gehen. Wobei: Der hätte das so auch nicht durchgehen lassen dürfen. Damit liegt kein verwertbares Gutachten vor. Da ändert auch die „Reise“ nichts mehr. Denn es liegt kein Gutachten vor, für das er Verantwortung übernimmt.
Reinmar du Bois unterschreibt Gutachten nicht immer
Immerhin findet er jemand, der „in Vertretung“ unterschreibt. Doch was ist vertreten? Die Prüfung? Die Urteilsbildung? Und überhaupt.
Arnscheidt unterschreibt Gutachten nicht immer
Auch hier findet sie jemand, der „in Vertretung“ unterschreibt: Ihren Kollegen du Bois. Doch was ist vertreten? Wohl nur die Unterschrift. Dies reicht aber nicht aus, um ein ordnungsgemäß unterschriebenes Gutachten zu gerieren. Das beweist
Habt ihr aufgepasst?
Wenn ihr oben den Auszug aus den Mindestanforderungen sorgfältig gelesen habt, habt ihr sicher erkannt dass das Datum auch fehlt.
Kritik an den Gerichten
Meine Hauptkritik richtet sich insoweit aber an die Gerichte. Würden diese die Gutachten lesen und die Mindestanforderungen kennen – wobei es eine sehr umfangreiche Rechtsprechung auch zu Unterschriften gibt – gäbe es solche Fehler nicht. Insbesondere kann solches Vorgehen sogar die Herstellung einer unechten Urkunde darstellen, wie der BGH, Urt. v. 06.12.1961, Az. 2 StR 350/61 ausführt (zitiert nach LTO). Aber vor allem nervt mich, dass solche Gutachten überhaupt weitergeleitet werden. Warum werden diese von den Richtern nicht zurückgegeben wegen dieser erheblichen, offenkundigen Fehler? Vielleicht weil man einräumen müsste, das Gutachten nicht (richtig) gelesen zu haben? Solche Fehler sind m.E. nur durch ein neues Gutachten heilbar, wobei einmal strafbares Verhalten kaum mehr umgedeutet werden kann. Günter und du Bois, das muss die Justiz in Baden-Württemberg anerkennen, sind als Gutachter (zumindest bei familienpsychologischen Gutachten) meiner Meinung nach nicht tragbar.
Kritik an den Anwälten
Wie immer richtet sich die Hauptkritik aber an die beteiligten Anwälte. Wieso kommt hier kein erbitterter Widerstand? Wir brauchen engagierte Anwälte, die die Interessen ihrer Partei bis zum Ende vertreten und verteidigen, nicht nur bis zur Abrechnung. Gutachten von Günter und du Bois sollten anwaltlich grundsätzlich abgelehnt werden meiner Meinung nach. Diese erfüllen in den von mir geprüften Fällen nicht ansatzweise die Mindestanforderungen. Deshalb habe ich hier angefangen, eine Webseite mit Aufsätzen für Fachpersonen (Richter und Anwälte) zu erstellen, um die Qualität rechtlicher Arbeit nachhaltig zu fördern. Mein erster Aufsatz heißt daher auch „Gutachten und Juristen“ und darf gern zitiert werden.
Die Billigung des Umgangsvergleichs in Familiensachen beendet das Umgangsverfahren. Lange Zeit war es umstritten, ob man bei Umgangsvergleichen den Vergleichsschluss anfechten kann oder nicht. Der Bundesgerichtshof hat insoweit entschieden, dass der Billigungsbeschluss des Amtsgerichtes / Oberlandesgerichtes eine Entscheidung i.S. §58 I FamFG ist und kann damit angefochten werden, BGH, Beschluss v. 10.7.2019, XII ZB 507/18 (das gilt bei OLG Beschluss freilich nur, soweit zugelassen i.S. §70 FamFG).
Umgangsvergleich und Billigung
§156 FamFG knüpft den Umgangsvergleich an die folgende Bedingungen:
„(2) Erzielen die Beteiligten Einvernehmen über den Umgang oder die Herausgabe des Kindes, ist die einvernehmliche Regelung als Vergleich aufzunehmen, wenn das Gericht diese billigt (gerichtlich gebilligter Vergleich). Das Gericht billigt die Umgangsregelung, wenn sie dem Kindeswohl nicht widerspricht.“
Auch eine Einigung der Eltern muss als auf Kindeswohldienlichkeit geprüft werden. Das Gericht kann insoweit Abweichen von der Vereinbarung der Eltern; somit ist dieser immer anfechtbar. Dies gilt sogar dann, wenn die Billigung nur dasjenige billigt, was man selbst beantragt hat. Man ist also immer „beschwert“, soweit man geltend macht, dass diese Regelung dem Wohl des Kindes nicht mehr entspricht. Diese Unvereinbarkeit muss man aber darlegen können.
Der Beschluss der Billigung muss ausdrücklich erfolgen, konkludent durch Protokollierung der Vereinbarung reicht nicht aus (vgl. BeckOK FamFG/Schlünder, 47. Ed. 1.8.2023, FamFG § 156 Rn. 17-18b).
Widerruf der Zustimmung des Vergleichs
Das Einvernehmen der Beteiligten, also die Zustimmung zum Vergleich, muss im Zeitpunkt der Entscheidung des Familiengerichts über die Billigung des Vergleichs (noch) vorliegen (OLG Düsseldorf BeckRS 2016, 19078; Sternal/Schäder Rn. 16; Schlünder FamRZ 2020, 1150).
Eine zunächst erteilte Zustimmung eines Beteiligten ist bis zur gerichtlichen Billigung frei widerruflich (vgl. BeckOK FamFG/Schlünder, 47. Ed. 1.8.2023, FamFG § 156 Rn. 10, 10a, OLG Düsseldorf BeckRS 2017, 124329; OLG Hamm BeckRS 2015, 16407; OLG Brandenburg FamRZ 2014, 2019 usw.).
Der Widerruf muss nicht ausdrücklich erklärt werden, sinnvoll wäre dies aber (OLG Düsseldorf BeckRS 2017, 124329).
Dabei kann bereits ein Bedenken gegen eine Zustimmung bestehen, wenn ein Elternteil nur durch den Anwalt, unter Protest oder Vorbehalt zustimmt oder sich durch das Gericht „genötigt“ fühlt.
Widerruf bis zur Billigung, danach Beschwerde
Wenn also das Gericht nicht sofort den Billigungsbeschluss erlässt und verkündet, hat man jederzeit das Recht, die Zustimmung zu widerrufen. Dann muss das Gericht erneut verhandeln oder einen Beschluss erlassen und das OLG ggf. das Verfahren an das AG zurückweisen.
Wenn ihr Eure Zustimmung erteilt habt und der Billigungsbeschluss erlassen ist, dann kann man eine Beschwerde erheben oder den Vergleich anfechten, falls man sich wirklich getäuscht hat oder ähnliches. Die Beschwerde ist dann aber der sinnvollere Weg.
Die Zustimmung zum Umgangsvergleich ist bis zur Billigung widerruflich, danach durch Beschwerde anfechtbar.
Die Alltagssorge oder auch genauer Angelegenheiten des täglichen Lebens sind eine Ausnahme von der gemeinsamen elterlichen Sorge, nach der alle relevanten Entscheidungen gemeinsam getroffen werden müssen. Sie hat ihren Ursprung in §1687 I S. 2-4 BGB:
„Der Elternteil, bei dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung gewöhnlich aufhält, hat die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens. Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens sind in der Regel solche, die häufig vorkommen und die keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Solange sich das Kind mit Einwilligung dieses Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung bei dem anderen Elternteil aufhält, hat dieser die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten der tatsächlichen Betreuung. § 1629 Abs. 1 Satz 4 und § 1684 Abs. 2 Satz 1 gelten entsprechend.“
Die Entscheidung über Angelegenheiten des täglichen Lebens hat gem. S. 2 derjenige, bei dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies ist in der Regel der, der das alleinige ABR = Aufenthaltsbestimmungsrecht hat. Es kommt also darauf an, bei wem das Kind „mehr“ Zeit verbringt.
Angelegenheiten des täglichen Lebens und Umgang
Doch auch der Elternteil, der nur Umgang hat, hat während des Umgangs die Alltagssorge. Dies ergibt sich aus S. 4
Was sind nun Angelegenheiten des täglichen Lebens?
Angelegenheiten des täglichen Lebens sind solche, die keinen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben1. Der Beck Online Kommentar definiert diese Alltagssorge als Entscheidungen, die sich durch Häufigkeit d und durch die Abänderbarkeit ihrer Auswirkungen auszeichnen2.
Das sind Entscheidungen über alle Angelegenheiten, die nicht die Weichen für die Kindesentwicklung stellen, wobei durchaus auch Reihenfolge von Fremdsprachen am Gymnasium hierunter zu zählen sein kann3.
Es ist ein Recht auf partielle Alleinsorge und Alleinvertretung4.
Der Münchener Kommentar zählt hierunter z.B.
Nachhilfe
Teilnahme an Klassenausflug
Klassenreisen,
Skikurs,
Arbeitsgemeinschaften,
Abholen vom Kindergarten,
Besuche bei anderen Verwandten, vor allem bei den Großeltern,
Fragen der Freizeitgestaltung (Fernseh- und Internetkonsum, Diskothekenbesuch)
einfache medizinische Behandlungen
Beantragung von Ausweispapieren für eine Auslandsreise
Ich sehe das in mancherlei Hinsicht durchaus anders. Fragen des Internetkonsums können durchaus nachhaltige Entwicklungen nach sich ziehen und sollten daher gemeinsam getroffen werden.
Die obige Liste verdeutlicht aber das Problem, dass es keine klaren Regelungen gibt und es immer auf den Einzelfall und das konkrete Kind ankommen wird. Am deutlichsten wird dies bei medizinischen Angelegenheiten.
Medizinische Angelegenheiten
Medizinische Angelegenheiten sind hier das Paradebeispiel für Problemfälle:
Beide Elternteile haben gemeinsam nach § 1687 über Operationen oder andere medizinische Eingriffe zu entscheiden, wobei allerdings in Notfällen „Notbefugnisse“ bestehen können, vgl. Abs. 1 S. 5, wie die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, die Einweisung in eine Heilanstalt oder in ein Sanatorium, aber auch ambulante Psychotherapie langwierige Behandlungen wie Zahn- und Kieferregulierungen, und über sonstige ärztliche Behandlungen, hierzu zählen auch Schutzimpfungen einschließlich Auffrischungen, oder die medizinische Versorgung allgemein, etwa bei einem asthmatischen Kind oder einem Allergiker. Andererseits darf der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, bei kleineren Eingriffen nach unbedeutenden Verletzungen allein entscheiden
MüKoBGB/Hennemann, 8. Aufl. 2020, BGB § 1687
In Notfällen entscheidet daher ein Elternteil alleine, wobei die Eilbedürftigkeit ein Problem darstellen wird. Je langfristiger Auswirkungen sind (Kieferregulierung), desto eher muss gemeinsam entschieden werden. Kurzfristige Behandlungen (Zahnhygiene oder einfache Löcher) desto eher entscheidet der Elternteil, bei dem sich das Kind befindet.
Kleinere Eingriffe sind daher solche, die keine dauernde Auswirkung auf die Entwicklung des Kindes haben, also Behandlungen bei einfachen Krankheitsverdachten usw. Dazu gehören körperliche Symptome (Bauchweh, Durchfall, Einkoten, Schmerzen, kleine Schnitte). Es kann sich aber während der Behandlung ergeben, dass das einfache Bauchweh weitreichendere Ursachen hat, die dann eine Zustimmung beider Elternteile (Darmspiegelung, Blinddarm-OP) nach sich zieht.
Ergebnis
Eine klare Abgrenzung gibt es nicht. Es empfiehlt sich daher immer ein Kontaktversuch zum anderen Elternteil, um dann ggf. auch Notfallargumente anführen zu können. Grundsätzlich ist aber eine Absprache oder eine Vollmacht vorzuziehen, wenn man sich entsprechend vertraut.
Ich erlebe es oft, dass mir Eltern berichten, sie dürften sich nur auf Deutsch mit dem Kind beim begleiteten Umgang unterhalten. Das ist falsch. Die Sprache bei begleitetem Umgang hat sich am Kind, der Familie und den Bindungen zu orientieren. Alles andere widerspricht dem Kindeswohl.
Welche Sprache bei begleitetem Umgang?
„Sprache und Identität sind eng miteinander verbunden. Über Sprache vermitteln sich Erfahrungen, Wissen und Werte. Oft werden in Deutschland andere Sprachen als Bedrohung empfunden – nicht Deutsch sprechen wird mit Nicht-Integration gleichgesetzt. Zum Glück mehren sich im öffentlichen Raum die Beispiele, wie bereichernd ein mehrsprachiges Aufwachsen für unsere Gesellschaft ist.„1
Diese Aussage ist so richtig, wie sie konsequent immer wieder missachtet wird. Weil bei vielen begleiteten Umgängen fälschlicherweise immer das schlechteste von Eltern gedacht oder solches unterstellt wird, wird auch aufgrund eigener Unwissenheit untersagt, sich in einer anderen Sprache als die, die der Begleiter versteht, zu unterhalten. Teils werden hier Eltern-Kind-Bindungen erheblich geschädigt, teils über die Jahre sogar Kontakt be- oder verhindert.
Sprache der Beziehung zum Kind, nicht Deutsch!
Folgerichtig kommentiert Cortico in Dürbeck, Handbuch begleiteter Umgang auf S. 246 das folgende:
Bei Problemen könnt ihr insoweit verwaltungsrechtlich über das Wunsch- und Wahlrecht eine andere Begleitung oder andere Begleitungsregeln erstreiten. Denn wer sich gegen die Beziehung Eltern-Kind stellt, egal wie nachvollziehbar seine Motive sein mögen oder ob es ein Gericht angeordnet hat, der wendet sich gegen das Wohl des Kindes, gegen die bestehenden Bindungen und kann diese nicht fördern. Die Sprache bei begleitetem Umgang wählt ihr nach den Bedürfnissen des Kindes, an nicht anderem aus.
Verband binationaler Familien, Familiäre Mehrsprachigkeit – die vergessene Ressource 2004 in Dürbeck, Handbuch begleiteter Umgang ↩︎
Im Handbuch Begleiteter Umgang von Dürbeck, Reguvis Verlag, 4. Auflage 2023, habe ich eine interessante Checkliste Raumausstattung begleiteter Umgang gefunden, der das Mindestmaß an Raumausstattung definiert.
Danach soll ein Raum, in dem begleiteter Umgang stattfindet, die folgenden Voraussetzungen erfüllen (und habe mir ein paar Ergänzungen erlaubt):
Abschließbarer Nebenraum
Zugang zu Toilette und Wickelraum
Notfalltelefon
Liste mit Notfallnummern
Erste Hilfe Koffer
Barrierefreiheit
Raum hell und freundlich
Raumtemperatur angemessen, nicht zu kalt, nicht zu warm
Lüftungsmöglichkeit
Getränke vorhanden
Zugang zu Garten und Spielplatz
Spielsachen für Kinder jeden Alters, insbesondere Puppen, Lego, Playmobil, Bälle, Knete, Kicker, Tischtennis, Kissen, Decken, Bausteine, Puppenhaus, Verkleidungskiste, Bücher für Kinder jeden Alters
Rückzugsmöglichkeit für das Kind (Zelt, Höhle o.ä.) im Raum, dazu gehört auch eine angemessene Raumgröße
Mal- und Bastelsachen für Kinder mit Stiften, Scheren und Papier
Abspielgerät für Hörspiele/Tonie-Box
Brettspiele für alle Altersgruppen
Tische und Stühle für Kinder und Erwachsene
Platz auch für Umgangsbegleitung
Reinigungsmöglichkeiten (Staubsauger) nach handwerklicher Tätigkeit/Basteln oder Essen
Garderobe für Schuhe und Jacken/Mützen
Technische Geräte auch für Hausaufgaben (Recherche usw.)
Stauraum, um eigenes Spielzeug dort zu lassen
Datenschutzkonformität, also keine offenen Unterlagen der Begleiter usw.
Ich mag das Handbuch und kann es nur empfehlen und werde einige Aspekte für Euch hier berichten. Doch entspricht Euer Raum dieser theoretischen Realität? Wieviele der 18 Punkte waren für Euch erfüllt? Hat man Euch Erste-Hilfe-Möglichkeiten gezeigt oder nur darauf hingewiesen, dass Ihr selbst verantwortlich seid? War ein Zugang zum Garten/Spielplatz vorhanden und durfte der auch genutzt werden?
Bitte kommentiert Eure Erfahrungen in den Kommentaren, und teilt mir mit, was Eurer Meinung nach in der Liste oben fehlt.
Triftige Gründe benötigt man, um die Abänderung eines Beschlusses oder eines Vergleiches i.S. §1696 I BGB zu erreichen. Dabei ist der Maßstab strenger als beim Kindeswohl. Oftmals wird für Gerichte und Beschwerdegerichte, um eine schnelle Entscheidung herbeizuführen, verneint, dass triftige Gründe vorliegen. Daher gilt es hier besonnen vorzutragen und typische Fehler bei Abänderungsanträgen zu vermeiden.
Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB
Der Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB ist streng. Er ist strenger als der Maßstab der §§ 1697a oder 1671 BGB.
Es genügt nicht, dass die Neuregelung dem Kindeswohl genügt.
Es muss eine Abwägung aller Vor- und Nachteile erfolgen:
Vielmehr müssen im Hinblick auf die gewünschte Stabilität der Lebensverhältnisse des Kindes die Vorteile der angestrebten Neuregelung die mit der Abänderung verbundenen Nachteile deutlich überwiegen (Grüneberg/Götz BGB § 1696 Rn. 9 mit Hinweis auf OLG Hamburg NJW-RR 2021, 197 = FamRZ 2021, 204; OLG Dresden NJOZ 2022, 1027 = FamRZ 2022, 1208).
OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22
Unterschied triftige Gründe und Abwägung bei Sorgerechts- und Umgangsantrag
Bei der Abwägung kommt es auch darauf an, ob man über Sorgerecht oder Umgangsrecht streitet (beachtet: Wechselmodell ist nach wie vor Umgangsregelung!); denn eine solche Abänderung ist schneller auszusprechen, weil die Folgen bei Umgang weniger gravierend sind:
Allerdings sind die Voraussetzungen für eine Modifikation des Umgangs niedriger als bei Entscheidungen zum Sorgerecht, weil die Abänderung einer Umgangsregelung regelmäßig weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes eingreift (OLG Frankfurt a. M. NJOZ 2022, 97 = FamRZ 2022, 362).
OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22
Ausführlicher hierzu das OLG Frankfurt:
Da Umgangsregelungen in besonderem Maß der Anpassungsnotwendigkeit unterliegen (Staudinger/Coester BGB, 2019, § 1696 Rn. 30) ist die Änderungsschwelle für eine Modifikation oder eine Erweiterung des Umgangs niedriger als bei sorgerechtlichen Regelungen anzusetzen. Umgangsregelungen greifen zum einen weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes ein als ein grundsätzlicher Platzierungswechsel. Zum anderen können Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien häufig notwendig werden (Staudinger/Coester BGB § 1696 Rn. 113). Anpassungen an veränderte Umstände können demnach schon dann geboten sein, wenn dies dem Kindeswohl dient (OLG Brandenburg 27.12.2016 – 10 UF 23/16, BeckRS 2016, 124514). Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch Umgangsregelungen eine „gewisse Bestandskraft“ haben, die ohne Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht durchbrochen werden darf (OLG Zweibrücken NJW-RR 1997, 900).
OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 26.10.2021 – 6 UF 147/21
Anpassungen sind der Umgangsregelung immanent; Kinder, Familien, Bedürfnisse ändern sich, weshalb keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Das OLG Frankfurt erwähnt
Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien
Anpassungen aus dem Kindeswohl heraus
Auch der Kindeswille wird hier eine herausragende Bedeutung haben.
Triftige Gründe
Was sind also nun diese triftigen Gründe? Eine klare Definition wird es nie geben; dazu ist Familienrecht zu einzelfallbezogen.
Als Begründung für die Beschränkung auf triftige Gründe führt der Münchener Kommentar aus;
Obwohl sorge- und umgangsrechtliche Entscheidungen bzw. gerichtlich gebilligte Vergleiche nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, erlaubt Abs.1 keine beliebige Wiederaufnahme des Verfahrens. Zum einen soll das Kind möglichst Erziehungskontinuität erfahren. Zum anderen ist jede Änderung des Eltern-Kind-Verhältnisses ein Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Elternautonomie (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und bedarf deshalb einer Rechtfertigung. Der Gesetzgeber hat sich für eine kontinuierlich am Kindeswohl orientierte Eingriffsmöglichkeit entschieden und bei der Neufassung des Abs. 1 durch das KindRG 1998 die von der Rechtsprechung entwickelte Formel übernommen, wonach die Änderung aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sein muss.
MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 23
Dieser Prüfungsmaßstab wird daher auch „qualifizierte positive Kindeswohlprüfung1“ genannt.
Es muss daher
ein Änderungsgrund von solcher Bedeutung vorliegen,2
der den Grundsatz der Erziehungskontinuität überwiegt
und die mit der Veränderung verbundenen Nachteile für die Entwicklung sowie
die Änderung muss am generellen Bedürfnis des Kindes nach Kontinuität und Stabilität seiner Lebens- und Erziehungsbedingungen gemessen werden
Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor,
Grundlegende Wertungen, die sich aus der Erstentscheidungsnorm ergeben, müssen aber auch im Änderungsverfahren berücksichtigt werden, um einen „unerträglichen“ Wertungswiderspruch zu vermeiden
Das ist wie alle rechtlichen Wertungen erst einmal viel zu berücksichtigen und wenig konkretes. Aber dass das Gericht hier einen Bewertungsspielraum hat, wird man kaum verkennen können.
Der Wille des Kindes alleine hingegen reicht nicht aus3. Auch der Wille eines Elternteils alleine reicht nicht aus4.
EMRK-Konform
Diese Einschränkung des Abänderungsverfahrens ist auch vom EGMR als zulässig bejaht.
Denn das Ziel dieser erheblichen Einschränkung der Abänderungsmöglichkeit, Kinder vor fortwährenden Sorgerechtsverfahren zu schützen, ist zulässig i.S. der EMRK:
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass § 1696 BGB u. a. zum Ziel hat, Kinder vor fortwährenden Sorgerechtsverfahren zu schützen und für eine stabile und dauerhafte Sorgesituation zu sorgen. Er ist somit auf das legitime Ziel gerichtet, die „Gesundheit“ und die „Rechte und Freiheiten anderer“ zu schützen.
Innerstaatliche Behörden haben insoweit einen erheblichen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf Art. 8 EMRK:
Aus diesen Erwägungen und im Hinblick auf den großen Beurteilungsspielraum der innerstaatlichen Behörden bei Sorgerechtsentscheidungen (vgl. u. a. S., a. a. O., Rdnrn. 64-65) ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der innerstaatlichen Gerichte angemessen und hinreichend begründet war und dem Beschwerdeführer somit den erforderlichen Schutz seines Rechts auf Achtung seines Familienlebens zuteil werden ließ.
Folglich ist Artikel 8 der Konvention im Fall Enke gegen Deutschland nicht verletzt worden.
2. Unter Berufung auf die Artikel 6 und 14 rügte der Beschwerdeführer ferner, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte zu einer Ungleichbehandlung der Elternteile geführt habe.
Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.
Das führt natürlich noch zu mehr Unsicherheit und damit zu mehr Begründungsaufwand für Euch.
Einzelfälle
In der gängigen Literatur gibt es Listen mit Einzelfällen; diese können Eure Anwälte heranziehen; wichtig ist aber nach wie vor die Herausarbeitung der Änderungen für die Kinder und die Bedeutung auf deren Entwicklung.
der erfolgreiche Abschluss einer Familientherapie (AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg FamRZ 2004, 134, im konkreten Fall allerdings ein Anwendungsfall von Abs. 2),
eine wiederholte Verletzung des Kindesrechts auf gewaltfreie Erziehung (OLG Jena FamRZ 2005, 52 (53)),
die Uneinsichtigkeit des Sorgeberechtigten bei der Ernährung des noch nicht schulpflichtigen Kindes sowie die mangelnde Befolgung ärztlicher Anordnungen über die medikamentöse Behandlung (KG NJW-RR 1990, 716) oder sonstiger medizinisch indizierter Maßnahmen (OLG Hamm FamRZ 1979, 855),
ein grenzenloses Omnipotenzverhalten des Sorgeberechtigten, das den Kindern keine Chance zu eigenständiger Entwicklung lässt (OLG Frankfurt FamRZ 2005, 1700),
eine ansteckende Krankheit des Sorgeberechtigten (OLG Hamm ZBlJR 1955, 138 (139)),
eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Umgangspflegerin mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie (AG Frankfurt FamRZ 2020, 839 (840) = JAmt 2020, 266),
die Ansteckungsgefahr von Kindern in Kindertagesstätten während der Covid-19-Pandemie (AG München FamRZ 2020, 1178 mAnm Rake).
Was hier vor allem fehlt ist aber auch eine nicht realisierte Hoffnung aus einem familienpsychologischen Gutachten oder realisierte Bedenken aus einem familienpsychologischen Gutachten. Auch Indizien für die Belastung des Kindes, andauernde Manipulation und ähnliches kann einen solchen triftigen Grund darstellen.
Gerne könnt Ihr Euch in der Hotline des Vereins Erzengel kostenfrei beraten lassen zu diesem Thema:
Mündliche Verhandlung in der Beschwerde sind grundsätzlich verpflichtend. Nur in Ausnahmefällen kann man davon absehen. Oftmals wird aber formelhaft davon abgesehen, weil „keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“ Das ist im Gesetz so vorgesehen, allerdings sollte man hier immer besonderes Augenmerk auf diese Argumentation legen, weil diese mit der EMRK in Widerspruch stehen könnte. Zudem bedeutet diese Rechtslage auch, dass es Eure Aufgabe ist, sicherzustellen, dass ihr nach der erstinstanzlichen Entscheidung neue Aspekte anführt. So wird dem Beschwerdegericht die Chance genommen, auf die mündliche Verhandlung zu verzichten.
Mündliche Verhandlung in der Beschwerde gem. §68 FamFG
„(3) Das Beschwerdeverfahren bestimmt sich im Übrigen nach den Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug. Das Beschwerdegericht kann von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“
Eigentlich spricht Satz 2 deutliche Worte, die einfach verständlich sind. Mündliche Verhandlung in der Beschwerde ist also die Regel, das Absehen die Ausnahme. Leider wird genau dieser Satz als pauschaler Baustein oft genutzt, um Elternrechte auszuschalten. Wenn es neue Fakten nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gab oder in der Kindesanhörung Fragen offen geblieben sind, auch fachpsychologische Fragen ungeklärt sind, dann muss eine mündliche Verhandlung stattfinden.
Kommentarliteratur zur mündlichen Verhandlung
Zitieren wir die Kommentarliteratur hierzu:
Es kann von einer Beweisaufnahme oder einzelnen Verfahrenshandlungen abgesehen werden,
„wenn dies bereits in der ersten Instanz ordnungsgemäß durchgeführt wurde und von einer erneuten Vornahme keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind. So kann von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen werden, wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtlichen Gesichtspunkte ergeben…“
zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 39 zu §68 FamFG.
Ordnungsgemäß heißt auch vollständige Beweisaufnahme, was sich aus dem Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 GG ergibt.
Anhörungen sind danach vorzunehmen, wenn Bedenken an die Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen bestehen.
zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.
Wie bei einer Gehörsrüge muss man also schauen, ob das Gericht verschiedene Aspekte übersehen hat, und hierzu in der Beschwerde vortragen.
Dies gilt insbesondere, wenn wesentliche neue Tatsachen zu erörtern sind, die in der ersten Instanz noch nicht zur Sprache gekommen sind,
zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.
Dieses Argument steuert ihr über einer Beschwerdevorbringen: Einfach vortragen, was an neuen Erkenntnissen bestehen.
„Wenn sich seit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung neue Gesichtspunkte ergeben haben, muss der Beteiligte bzw. Betroffene erneut angehört werden (BGH BeckRS 2010, 17681 Rn. 9 für das Abschiebungshaftverfahren; BGH NJW 2011, 2365 Rn. 13 für das Unterbringungsverfahren).“
zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44b
Es besteht also eine Pflicht, Beteiligte zu neuen Erkenntnissen anzuhören. Und schriftlich rechtliches Gehör gewähren reicht insoweit nicht aus!
Dann jedenfalls eignet sich der Sachverhalt nicht mehr für eine Entscheidung nach Aktenlage:
„Der Sachverhalt muss sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignen, woran es fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur aufgrund einer durch unmittelbare Anhörung des Beteiligten gewonnenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können (BGH FGPrax 2010, 290 Rn. 9).“
zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44a
Daher muss eine mündliche Verhandlung stattfinden. „Solche Umstände“ sind daher auch Wertungen der Eltern oder Meinungen des Kindes.
„Erforderlich ist die erneute Anhörung, wenn die Entscheidung zum Nachteil des Betroffenen geändert werden soll (OLG Frankfurt a. M. BtPrax 1997, 73), wenn wesentliche neue Tatsachen vorgetragen werden (OLG Celle NdsRpfl 1995, 353); auch wenn der Betroffene beim erstinstanzlichen Anhörungstermin die Kommunikation mit dem Richter verweigert (BGH NJW 2016, 2650: Aufhebung einer Betreuung), wenn im ersten Rechtszug bei der Anhörung zwingende Verfahrensvorschriften verletzt wurden (BGH NJW 2011, 2365: Betroffener im Unterbringungsverfahren; NJW 2012, 2584).“
zitiert nach Bumiller/Harders/Schwamb/Bumiller FamFG § 68 Rn. 4-7
Die Ermittlungen müssen „erschöpfend“ sein.
„Gemäß Abs. 3 S. 2 kann das Beschwerdegericht in allen Verfahren nach dem FamFG – auch in Ehe- und Familienstreitsachen – nach pflichtgemäßem Ermessen von der Wiederholung erstinstanzlicher Verfahrenshandlungen absehen, soweit der Sachverhalt in erster Instanz erschöpfend und verfahrensgerecht ausermittelt worden ist und eine erneute Vornahme nicht zu neuen Erkenntnissen führen würde. Dies betrifft auch die mündliche Verhandlung.“
zitiert nach MüKoFamFG/A. Fischer FamFG § 68 Rn. 6-8
Bundestagsdrucksachen zu §68 FamFG und zur mündlichen Verhandlung in der Beschwerde
Der Bundestag hat hierzu ausgeführt unter Berücksichtigung der verbindlichen Rechtsprechung des EGMR und der Verbindlichkeit der EMRK (vgl. BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 42-45):
„Diese Neuregelungen sind mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Die Menschenrechtskonvention enthält zwar den Grundsatz der mündlichen Verhandlung für alle streitigen Zivilverfahren, worunter nach der Rechtsprechung des EGMR auch Ehesachen, Kindschaftssachen und Unterbringungssachen fallen (vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2006, Rn. 8 zu Artikel 6). Es ist aber nach der Rechtsprechung anerkannt, dass der Staat eine Fallgruppe hiervon zum Schutz der Moral, der öffentlichen Ordnung, zum Jugendschutz oder zum Schutz des Privatlebens ausnehmen kann (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 63). Für Rechtsmittelinstanzen gilt auch nach der Rechtsprechung des Euro- päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass von der mündlichen Verhandlung abgesehen werden kann, wenn in der ersten Instanz eine solche stattgefunden hat und es nur um die Zulassung des Rechtsmittels geht oder nur eine rechtliche Überprüfung möglich ist. Eine zweite mündliche Verhandlung ist nach der Rechtsprechung des EGMR auch bei Entscheidungen über Tatsachenentscheidungen entbehrlich, wenn ohne eigene Tatsachenermittlungen aufgrund der Aktenlage entschieden werden kann, nicht aber wenn der Fall schwierig ist und die tatsächlichen Fragen nicht einfach sind und erhebliche Bedeutung haben (Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 66). Bei Absatz 3 Satz 2 handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Das Gericht hat die Vorschrift konform mit der EMRK auszulegen und bei der Ausübung des Ermessens auch die Rechtsprechung des EGMR hierzu zu beachten.“
zitiert nach BT-Drs. 16/6308, 207,208
Das Ermessen des Gerichts muss also richtig gebrauchen. Im Verwaltungsrecht sind als Fehler anerkannt Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung, und die Verhältnismäßigkeit. Bausteine werden immer Ermessensnichtgebrauch sein.
Die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung in FamFG Sachen verletzt daher das faire Verfahren nach Art. 6 EMRK, wenn entweder neue Tatsachen nach Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sind, auf die es ankommt, oder wenn in erster Instanz nicht bereits alle Aspekte ausreichend gewürdigt sind, was einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör darstellt. Hierzu habe ich in meinem Artikel zur Anhörungsrüge auch vorgetragen.