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Umgang

Alltagssorge

Die Alltagssorge oder auch genauer Angelegenheiten des täglichen Lebens sind eine Ausnahme von der gemeinsamen elterlichen Sorge, nach der alle relevanten Entscheidungen gemeinsam getroffen werden müssen. Sie hat ihren Ursprung in §1687 I S. 2-4 BGB:

„Der Elternteil, bei dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung gewöhnlich aufhält, hat die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens. Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens sind in der Regel solche, die häufig vorkommen und die keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Solange sich das Kind mit Einwilligung dieses Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung bei dem anderen Elternteil aufhält, hat dieser die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten der tatsächlichen Betreuung. § 1629 Abs. 1 Satz 4 und § 1684 Abs. 2 Satz 1 gelten entsprechend.“

§1687 BGB

Wer hat die Alltagssorge?

Die Entscheidung über Angelegenheiten des täglichen Lebens hat gem. S. 2 derjenige, bei dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies ist in der Regel der, der das alleinige ABR = Aufenthaltsbestimmungsrecht hat. Es kommt also darauf an, bei wem das Kind „mehr“ Zeit verbringt.

Angelegenheiten des täglichen Lebens und Umgang

Doch auch der Elternteil, der nur Umgang hat, hat während des Umgangs die Alltagssorge. Dies ergibt sich aus S. 4

Was sind nun Angelegenheiten des täglichen Lebens?

Angelegenheiten des täglichen Lebens sind solche, die keinen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben1. Der Beck Online Kommentar definiert diese Alltagssorge als Entscheidungen, die sich durch Häufigkeit d und durch die Abänderbarkeit ihrer Auswirkungen auszeichnen2.

Das sind Entscheidungen über alle Angelegenheiten, die nicht die Weichen für die Kindesentwicklung stellen, wobei durchaus auch Reihenfolge von Fremdsprachen am Gymnasium hierunter zu zählen sein kann3.

Es ist ein Recht auf partielle Alleinsorge und Alleinvertretung4.

Der Münchener Kommentar zählt hierunter z.B.

Nachhilfe

Teilnahme an Klassenausflug

Klassenreisen,

Skikurs,

Arbeitsgemeinschaften,

Abholen vom Kindergarten,

Besuche bei anderen Verwandten, vor allem bei den Großeltern,

Fragen der Freizeitgestaltung (Fernseh- und Internetkonsum, Diskothekenbesuch)

einfache medizinische Behandlungen 

Beantragung von Ausweispapieren für eine Auslandsreise

melderechtliche Festlegung des Hauptwohnsitzes.

Haarschnitte

Verwaltung kleinerer Geldgeschenke 

MüKoBGB/Hennemann, 8. Aufl. 2020, BGB § 1687 Rn. 18

Ich sehe das in mancherlei Hinsicht durchaus anders. Fragen des Internetkonsums können durchaus nachhaltige Entwicklungen nach sich ziehen und sollten daher gemeinsam getroffen werden.

Die obige Liste verdeutlicht aber das Problem, dass es keine klaren Regelungen gibt und es immer auf den Einzelfall und das konkrete Kind ankommen wird. Am deutlichsten wird dies bei medizinischen Angelegenheiten.

Medizinische Angelegenheiten

Medizinische Angelegenheiten sind hier das Paradebeispiel für Problemfälle:

Beide Elternteile haben gemeinsam nach § 1687 über Operationen oder andere medizinische Eingriffe zu entscheiden, wobei allerdings in Notfällen „Notbefugnisse“ bestehen können, vgl. Abs. 1 S. 5, wie die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, die Einweisung in eine Heilanstalt oder in ein Sanatorium, aber auch ambulante Psychotherapie langwierige Behandlungen wie Zahn- und Kieferregulierungen, und über sonstige ärztliche Behandlungen, hierzu zählen auch Schutzimpfungen einschließlich Auffrischungen, oder die medizinische Versorgung allgemein, etwa bei einem asthmatischen Kind oder einem Allergiker. Andererseits darf der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, bei kleineren Eingriffen nach unbedeutenden Verletzungen allein entscheiden

MüKoBGB/Hennemann, 8. Aufl. 2020, BGB § 1687

In Notfällen entscheidet daher ein Elternteil alleine, wobei die Eilbedürftigkeit ein Problem darstellen wird. Je langfristiger Auswirkungen sind (Kieferregulierung), desto eher muss gemeinsam entschieden werden. Kurzfristige Behandlungen (Zahnhygiene oder einfache Löcher) desto eher entscheidet der Elternteil, bei dem sich das Kind befindet.

Kleinere Eingriffe sind daher solche, die keine dauernde Auswirkung auf die Entwicklung des Kindes haben, also Behandlungen bei einfachen Krankheitsverdachten usw. Dazu gehören körperliche Symptome (Bauchweh, Durchfall, Einkoten, Schmerzen, kleine Schnitte). Es kann sich aber während der Behandlung ergeben, dass das einfache Bauchweh weitreichendere Ursachen hat, die dann eine Zustimmung beider Elternteile (Darmspiegelung, Blinddarm-OP) nach sich zieht.

Ergebnis

Eine klare Abgrenzung gibt es nicht. Es empfiehlt sich daher immer ein Kontaktversuch zum anderen Elternteil, um dann ggf. auch Notfallargumente anführen zu können. Grundsätzlich ist aber eine Absprache oder eine Vollmacht vorzuziehen, wenn man sich entsprechend vertraut.

  1. MüKoBGB/Hennemann, 8. Aufl. 2020, BGB § 1687 Rn. 18 ↩︎
  2. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1687 Rn. 25-26 ↩︎
  3. MüKo aaO ↩︎
  4. BeckOK aaO ↩︎
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Umgang

Die Sprache bei begleitetem Umgang

Ich erlebe es oft, dass mir Eltern berichten, sie dürften sich nur auf Deutsch mit dem Kind beim begleiteten Umgang unterhalten. Das ist falsch. Die Sprache bei begleitetem Umgang hat sich am Kind, der Familie und den Bindungen zu orientieren. Alles andere widerspricht dem Kindeswohl.

Welche Sprache bei begleitetem Umgang?

„Sprache und Identität sind eng miteinander verbunden. Über Sprache vermitteln sich Erfahrungen, Wissen und Werte. Oft werden in Deutschland andere Sprachen als Bedrohung empfunden – nicht Deutsch sprechen wird mit Nicht-Integration gleichgesetzt. Zum Glück mehren sich im öffentlichen Raum die Beispiele, wie bereichernd ein mehrsprachiges Aufwachsen für unsere Gesellschaft ist.1

Diese Aussage ist so richtig, wie sie konsequent immer wieder missachtet wird. Weil bei vielen begleiteten Umgängen fälschlicherweise immer das schlechteste von Eltern gedacht oder solches unterstellt wird, wird auch aufgrund eigener Unwissenheit untersagt, sich in einer anderen Sprache als die, die der Begleiter versteht, zu unterhalten. Teils werden hier Eltern-Kind-Bindungen erheblich geschädigt, teils über die Jahre sogar Kontakt be- oder verhindert.

Sprache der Beziehung zum Kind, nicht Deutsch!

Folgerichtig kommentiert Cortico in Dürbeck, Handbuch begleiteter Umgang auf S. 246 das folgende:

„Die Eltern werden von den Berater:innen ermutigt, hauptsächlich in der Sprache zu sprechen, in der sie die beste Beziehung zu ihrem Kind aufbauen können. Das gilt auch für den begleiteten Umgang, selbst wenn die begleitende Person diese Sprache nicht spricht. „

Cortico in Dürbeck, Handbuch begleiteter Umgang

Bei Problemen könnt ihr insoweit verwaltungsrechtlich über das Wunsch- und Wahlrecht eine andere Begleitung oder andere Begleitungsregeln erstreiten. Denn wer sich gegen die Beziehung Eltern-Kind stellt, egal wie nachvollziehbar seine Motive sein mögen oder ob es ein Gericht angeordnet hat, der wendet sich gegen das Wohl des Kindes, gegen die bestehenden Bindungen und kann diese nicht fördern. Die Sprache bei begleitetem Umgang wählt ihr nach den Bedürfnissen des Kindes, an nicht anderem aus.

  1. Verband binationaler Familien, Familiäre Mehrsprachigkeit – die vergessene Ressource 2004 in Dürbeck, Handbuch begleiteter Umgang ↩︎
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Umgang

Checkliste Begleiteter Umgang: Raumausstattung

Im Handbuch Begleiteter Umgang von Dürbeck, Reguvis Verlag, 4. Auflage 2023, habe ich eine interessante Checkliste Raumausstattung begleiteter Umgang gefunden, der das Mindestmaß an Raumausstattung definiert.

Danach soll ein Raum, in dem begleiteter Umgang stattfindet, die folgenden Voraussetzungen erfüllen (und habe mir ein paar Ergänzungen erlaubt):

  1. Abschließbarer Nebenraum
  2. Zugang zu Toilette und Wickelraum
  3. Notfalltelefon
  4. Liste mit Notfallnummern
  5. Erste Hilfe Koffer
  6. Barrierefreiheit
  7. Raum hell und freundlich
  8. Raumtemperatur angemessen, nicht zu kalt, nicht zu warm
  9. Lüftungsmöglichkeit
  10. Getränke vorhanden
  11. Zugang zu Garten und Spielplatz
  12. Spielsachen für Kinder jeden Alters, insbesondere Puppen, Lego, Playmobil, Bälle, Knete, Kicker, Tischtennis, Kissen, Decken, Bausteine, Puppenhaus, Verkleidungskiste, Bücher für Kinder jeden Alters
  13. Rückzugsmöglichkeit für das Kind (Zelt, Höhle o.ä.) im Raum, dazu gehört auch eine angemessene Raumgröße
  14. Mal- und Bastelsachen für Kinder mit Stiften, Scheren und Papier
  15. Abspielgerät für Hörspiele/Tonie-Box
  16. Brettspiele für alle Altersgruppen
  17. Tische und Stühle für Kinder und Erwachsene
  18. Platz auch für Umgangsbegleitung
  19. Reinigungsmöglichkeiten (Staubsauger) nach handwerklicher Tätigkeit/Basteln oder Essen
  20. Garderobe für Schuhe und Jacken/Mützen
  21. Technische Geräte auch für Hausaufgaben (Recherche usw.)
  22. Stauraum, um eigenes Spielzeug dort zu lassen
  23. Datenschutzkonformität, also keine offenen Unterlagen der Begleiter usw.

Ich mag das Handbuch und kann es nur empfehlen und werde einige Aspekte für Euch hier berichten. Doch entspricht Euer Raum dieser theoretischen Realität? Wieviele der 18 Punkte waren für Euch erfüllt? Hat man Euch Erste-Hilfe-Möglichkeiten gezeigt oder nur darauf hingewiesen, dass Ihr selbst verantwortlich seid? War ein Zugang zum Garten/Spielplatz vorhanden und durfte der auch genutzt werden?

Bitte kommentiert Eure Erfahrungen in den Kommentaren, und teilt mir mit, was Eurer Meinung nach in der Liste oben fehlt.


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Recht allgemein Sorgerecht

Triftige Gründe

Triftige Gründe benötigt man, um die Abänderung eines Beschlusses oder eines Vergleiches i.S. §1696 I BGB zu erreichen. Dabei ist der Maßstab strenger als beim Kindeswohl. Oftmals wird für Gerichte und Beschwerdegerichte, um eine schnelle Entscheidung herbeizuführen, verneint, dass triftige Gründe vorliegen. Daher gilt es hier besonnen vorzutragen und typische Fehler bei Abänderungsanträgen zu vermeiden.

Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB

Der Änderungsmaßstab bei §1696 I BGB ist streng. Er ist strenger als der Maßstab der §§ 1697a oder 1671 BGB.

Es genügt nicht, dass die Neuregelung dem Kindeswohl genügt.

Grüneberg/Götz BGB, 82. Aufl. 2023, BGB § 1696 Rn. 9

Es muss eine Abwägung aller Vor- und Nachteile erfolgen:

Vielmehr müssen im Hinblick auf die gewünschte Stabilität der Lebensverhältnisse des Kindes die Vorteile der angestrebten Neuregelung die mit der Abänderung verbundenen Nachteile deutlich überwiegen (Grüneberg/Götz BGB § 1696 Rn. 9 mit Hinweis auf OLG Hamburg NJW-RR 2021, 197 = FamRZ 2021, 204; OLG Dresden NJOZ 2022, 1027 = FamRZ 2022, 1208).

OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22

Unterschied triftige Gründe und Abwägung bei Sorgerechts- und Umgangsantrag

Bei der Abwägung kommt es auch darauf an, ob man über Sorgerecht oder Umgangsrecht streitet (beachtet: Wechselmodell ist nach wie vor Umgangsregelung!); denn eine solche Abänderung ist schneller auszusprechen, weil die Folgen bei Umgang weniger gravierend sind:

Allerdings sind die Voraussetzungen für eine Modifikation des Umgangs niedriger als bei Entscheidungen zum Sorgerecht, weil die Abänderung einer Umgangsregelung regelmäßig weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes eingreift (OLG Frankfurt a. M. NJOZ 2022, 97 = FamRZ 2022, 362).

OLG Bamberg Beschl. v. 30.1.2023 – 7 UF 190/22

Ausführlicher hierzu das OLG Frankfurt:

Da Umgangsregelungen in besonderem Maß der Anpassungsnotwendigkeit unterliegen (Staudinger/Coester BGB, 2019, § 1696 Rn. 30) ist die Änderungsschwelle für eine Modifikation oder eine Erweiterung des Umgangs niedriger als bei sorgerechtlichen Regelungen anzusetzen. Umgangsregelungen greifen zum einen weniger schwerwiegend in die Lebensverhältnisse des betroffenen Kindes ein als ein grundsätzlicher Platzierungswechsel. Zum anderen können Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien häufig notwendig werden (Staudinger/Coester BGB § 1696 Rn. 113). Anpassungen an veränderte Umstände können demnach schon dann geboten sein, wenn dies dem Kindeswohl dient (OLG Brandenburg 27.12.2016 – 10 UF 23/16, BeckRS 2016, 124514). Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch Umgangsregelungen eine „gewisse Bestandskraft“ haben, die ohne Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht durchbrochen werden darf (OLG Zweibrücken NJW-RR 1997, 900).

OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 26.10.2021 – 6 UF 147/21

Anpassungen sind der Umgangsregelung immanent; Kinder, Familien, Bedürfnisse ändern sich, weshalb keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Das OLG Frankfurt erwähnt

  • Anpassungen an Veränderungen in beiden Elternfamilien
  • Anpassungen aus dem Kindeswohl heraus

Auch der Kindeswille wird hier eine herausragende Bedeutung haben.

Triftige Gründe

Was sind also nun diese triftigen Gründe? Eine klare Definition wird es nie geben; dazu ist Familienrecht zu einzelfallbezogen.

Als Begründung für die Beschränkung auf triftige Gründe führt der Münchener Kommentar aus;

Obwohl sorge- und umgangsrechtliche Entscheidungen bzw. gerichtlich gebilligte Vergleiche nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, erlaubt Abs.1 keine beliebige Wiederaufnahme des Verfahrens. Zum einen soll das Kind möglichst Erziehungskontinuität erfahren. Zum anderen ist jede Änderung des Eltern-Kind-Verhältnisses ein Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Elternautonomie (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und bedarf deshalb einer Rechtfertigung. Der Gesetzgeber hat sich für eine kontinuierlich am Kindeswohl orientierte Eingriffsmöglichkeit entschieden und bei der Neufassung des Abs. 1 durch das KindRG 1998 die von der Rechtsprechung entwickelte Formel übernommen, wonach die Änderung aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sein muss.

MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 23

Dieser Prüfungsmaßstab wird daher auch „qualifizierte positive Kindeswohlprüfung1“ genannt.

Es muss daher

  • ein Änderungsgrund von solcher Bedeutung vorliegen,2
  • der den Grundsatz der Erziehungskontinuität überwiegt
  • und die mit der Veränderung verbundenen Nachteile für die Entwicklung sowie
  • die Änderung muss am generellen Bedürfnis des Kindes nach Kontinuität und Stabilität seiner Lebens- und Erziehungsbedingungen gemessen werden
  • Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor,
  • Grundlegende Wertungen, die sich aus der Erstentscheidungsnorm ergeben, müssen aber auch im Änderungsverfahren berücksichtigt werden, um einen „unerträglichen“ Wertungswiderspruch zu vermeiden

Das ist wie alle rechtlichen Wertungen erst einmal viel zu berücksichtigen und wenig konkretes. Aber dass das Gericht hier einen Bewertungsspielraum hat, wird man kaum verkennen können.

Der Wille des Kindes alleine hingegen reicht nicht aus3. Auch der Wille eines Elternteils alleine reicht nicht aus4.

EMRK-Konform

Diese Einschränkung des Abänderungsverfahrens ist auch vom EGMR als zulässig bejaht.

Denn das Ziel dieser erheblichen Einschränkung der Abänderungsmöglichkeit, Kinder vor fortwährenden Sorgerechtsverfahren zu schützen, ist zulässig i.S. der EMRK:

Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass § 1696 BGB u. a. zum Ziel hat, Kinder vor fortwäh­renden Sorgerechtsverfahren zu schützen und für eine stabile und dauerhafte Sorgesituation zu sorgen. Er ist somit auf das legitime Ziel gerichtet, die „Gesundheit“ und die „Rechte und Freiheiten anderer“ zu schützen.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Innerstaatliche Behörden haben insoweit einen erheblichen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf Art. 8 EMRK:

Aus diesen Erwägungen und im Hinblick auf den großen Beurteilungsspielraum der inner­staatlichen Behörden bei Sorgerechtsentscheidungen (vgl. u. a. S., a. a. O., Rdnrn. 64-65) ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der innerstaatlichen Gerichte angemessen und hinreichend begründet war und dem Beschwerdeführer somit den erforder­lichen Schutz seines Rechts auf Achtung seines Familienlebens zuteil werden ließ.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Folglich ist Artikel 8 der Konvention im Fall Enke gegen Deutschland nicht verletzt worden.

2. Unter Berufung auf die Artikel 6 und 14 rügte der Beschwerdeführer ferner, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte zu einer Ungleichbehandlung der Elternteile ge­führt habe.

Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die ge­rügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.

Enke gegen Deutschland, Individualbeschwerde

Das führt natürlich noch zu mehr Unsicherheit und damit zu mehr Begründungsaufwand für Euch.

Einzelfälle

In der gängigen Literatur gibt es Listen mit Einzelfällen; diese können Eure Anwälte heranziehen; wichtig ist aber nach wie vor die Herausarbeitung der Änderungen für die Kinder und die Bedeutung auf deren Entwicklung.

Die folgende Liste ist nicht abschließend5:

  • der erfolgreiche Abschluss einer Familientherapie (AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg FamRZ 2004, 134, im konkreten Fall allerdings ein Anwendungsfall von Abs. 2),
  • eine wiederholte Verletzung des Kindesrechts auf gewaltfreie Erziehung (OLG Jena FamRZ 2005, 52 (53)),
  • die Uneinsichtigkeit des Sorgeberechtigten bei der Ernährung des noch nicht schulpflichtigen Kindes sowie die mangelnde Befolgung ärztlicher Anordnungen über die medikamentöse Behandlung (KG NJW-RR 1990, 716) oder sonstiger medizinisch indizierter Maßnahmen (OLG Hamm FamRZ 1979, 855),
  • ein grenzenloses Omnipotenzverhalten des Sorgeberechtigten, das den Kindern keine Chance zu eigenständiger Entwicklung lässt (OLG Frankfurt FamRZ 2005, 1700),
  • eine ansteckende Krankheit des Sorgeberechtigten (OLG Hamm ZBlJR 1955, 138 (139)),
  • unkontrollierte Drogen- und Alkoholabhängigkeit (OLG Naumburg OLGR 2009, 209 = FamRZ 2009, 433 Ls.),
  • psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile (AG Flensburg BeckRS 2018, 44237 Rn. 13 ff.; zur wachsenden Erziehungsfähigkeit eines Elternteils bei sich stabilisierendem psychischen Zustand OLG Brandenburg BeckRS 2020, 22435 Rn. 25),
  • schulische Gründe (OLG Brandenburg FamRZ 2014, 1859: fehlende Unterrichtsmaterialien aufgrund wechselnden Umgangs; OLG Saarbrücken FamRZ 2012, 646: Einschulung),
  • eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Umgangspflegerin mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie (AG Frankfurt FamRZ 2020, 839 (840) = JAmt 2020, 266),
  • die Ansteckungsgefahr von Kindern in Kindertagesstätten während der Covid-19-Pandemie (AG München FamRZ 2020, 1178 mAnm Rake).

Was hier vor allem fehlt ist aber auch eine nicht realisierte Hoffnung aus einem familienpsychologischen Gutachten oder realisierte Bedenken aus einem familienpsychologischen Gutachten. Auch Indizien für die Belastung des Kindes, andauernde Manipulation und ähnliches kann einen solchen triftigen Grund darstellen.

Gerne könnt Ihr Euch in der Hotline des Vereins Erzengel kostenfrei beraten lassen zu diesem Thema:

  1. MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1696 Rn. 24, 25 ↩︎
  2. MüKo aaO ↩︎
  3. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1696 Rn. 16-18 ↩︎
  4. OLG Hamm FPR 2002, 270 ↩︎
  5. BeckOK BGB/Veit, 67. Ed. 1.1.2023, BGB § 1696 Rn. 19-29 ↩︎
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Recht allgemein

Mündliche Verhandlung in der Beschwerde

Mündliche Verhandlung in der Beschwerde sind grundsätzlich verpflichtend. Nur in Ausnahmefällen kann man davon absehen. Oftmals wird aber formelhaft davon abgesehen, weil „keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“ Das ist im Gesetz so vorgesehen, allerdings sollte man hier immer besonderes Augenmerk auf diese Argumentation legen, weil diese mit der EMRK in Widerspruch stehen könnte. Zudem bedeutet diese Rechtslage auch, dass es Eure Aufgabe ist, sicherzustellen, dass ihr nach der erstinstanzlichen Entscheidung neue Aspekte anführt. So wird dem Beschwerdegericht die Chance genommen, auf die mündliche Verhandlung zu verzichten.

Mündliche Verhandlung in der Beschwerde gem. §68 FamFG

„(3) Das Beschwerdeverfahren bestimmt sich im Übrigen nach den Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug. Das Beschwerdegericht kann von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“

Eigentlich spricht Satz 2 deutliche Worte, die einfach verständlich sind. Mündliche Verhandlung in der Beschwerde ist also die Regel, das Absehen die Ausnahme. Leider wird genau dieser Satz als pauschaler Baustein oft genutzt, um Elternrechte auszuschalten. Wenn es neue Fakten nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gab oder in der Kindesanhörung Fragen offen geblieben sind, auch fachpsychologische Fragen ungeklärt sind, dann muss eine mündliche Verhandlung stattfinden.

Kommentarliteratur zur mündlichen Verhandlung

Zitieren wir die Kommentarliteratur hierzu:

Es kann von einer Beweisaufnahme oder einzelnen Verfahrenshandlungen abgesehen werden,

„wenn dies bereits in der ersten Instanz ordnungsgemäß durchgeführt wurde und von einer erneuten Vornahme keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind. So kann von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen werden, wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtlichen Gesichtspunkte ergeben…“

zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 39 zu §68 FamFG.

Ordnungsgemäß heißt auch vollständige Beweisaufnahme, was sich aus dem Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 GG ergibt.

Anhörungen sind danach vorzunehmen, wenn Bedenken an die Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen bestehen.

zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.

Wie bei einer Gehörsrüge muss man also schauen, ob das Gericht verschiedene Aspekte übersehen hat, und hierzu in der Beschwerde vortragen.

Dies gilt insbesondere, wenn wesentliche neue Tatsachen zu erörtern sind, die in der ersten Instanz noch nicht zur Sprache gekommen sind,

zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.

Dieses Argument steuert ihr über einer Beschwerdevorbringen: Einfach vortragen, was an neuen Erkenntnissen bestehen.

„Wenn sich seit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung neue Gesichtspunkte ergeben haben, muss der Beteiligte bzw. Betroffene erneut angehört werden (BGH BeckRS 2010, 17681 Rn. 9 für das Abschiebungshaftverfahren; BGH NJW 2011, 2365 Rn. 13 für das Unterbringungsverfahren).“

zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44b

Es besteht also eine Pflicht, Beteiligte zu neuen Erkenntnissen anzuhören. Und schriftlich rechtliches Gehör gewähren reicht insoweit nicht aus!

Dann jedenfalls eignet sich der Sachverhalt nicht mehr für eine Entscheidung nach Aktenlage:

„Der Sachverhalt muss sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignen, woran es fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur aufgrund einer durch unmittelbare Anhörung des Beteiligten gewonnenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können (BGH FGPrax 2010, 290 Rn. 9).“

zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44a

Daher muss eine mündliche Verhandlung stattfinden. „Solche Umstände“ sind daher auch Wertungen der Eltern oder Meinungen des Kindes.

„Erforderlich ist die erneute Anhörung, wenn die Entscheidung zum Nachteil des Betroffenen geändert werden soll (OLG Frankfurt a. M. BtPrax 1997, 73), wenn wesentliche neue Tatsachen vorgetragen werden (OLG Celle NdsRpfl 1995, 353); auch wenn der Betroffene beim erstinstanzlichen Anhörungstermin die Kommunikation mit dem Richter verweigert (BGH NJW 2016, 2650: Aufhebung einer Betreuung), wenn im ersten Rechtszug bei der Anhörung zwingende Verfahrensvorschriften verletzt wurden (BGH NJW 2011, 2365: Betroffener im Unterbringungsverfahren; NJW 2012, 2584).“

zitiert nach Bumiller/Harders/Schwamb/Bumiller FamFG § 68 Rn. 4-7

Die Ermittlungen müssen „erschöpfend“ sein.

„Gemäß Abs. 3 S. 2 kann das Beschwerdegericht in allen Verfahren nach dem FamFG – auch in Ehe- und Familienstreitsachen – nach pflichtgemäßem Ermessen von der Wiederholung erstinstanzlicher Verfahrenshandlungen absehen, soweit der Sachverhalt in erster Instanz erschöpfend und verfahrensgerecht ausermittelt worden ist und eine erneute Vornahme nicht zu neuen Erkenntnissen führen würde. Dies betrifft auch die mündliche Verhandlung.“

zitiert nach MüKoFamFG/A. Fischer FamFG § 68 Rn. 6-8

Gemeint sind also gesicherte Ermittlungsgrundlagen, wozu das BVerfG bereits ausführlich und verbindlich Stellung genommen hat und worüber ich hier berichtet habe. Das gilt auch für einstweilige Anordnungen.

Bundestagsdrucksachen zu §68 FamFG und zur mündlichen Verhandlung in der Beschwerde

Der Bundestag hat hierzu ausgeführt unter Berücksichtigung der verbindlichen Rechtsprechung des EGMR und der Verbindlichkeit der EMRK (vgl. BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 42-45):

„Diese Neuregelungen sind mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Die Menschenrechtskonvention enthält zwar den Grundsatz der mündlichen Verhandlung für alle streitigen Zivilverfahren, worunter nach der Rechtsprechung des EGMR auch Ehesachen, Kindschaftssachen und Unterbringungssachen fallen (vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2006, Rn. 8 zu Artikel 6). Es ist aber nach der Rechtsprechung anerkannt, dass der Staat eine Fallgruppe hiervon zum Schutz der Moral, der öffentlichen Ordnung, zum Jugendschutz oder zum Schutz des Privatlebens ausnehmen kann (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 63). Für Rechtsmittelinstanzen gilt auch nach der Rechtsprechung des Euro- päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass von der mündlichen Verhandlung abgesehen werden kann, wenn in der ersten Instanz eine solche stattgefunden hat und es nur um die Zulassung des Rechtsmittels geht oder nur eine rechtliche Überprüfung möglich ist. Eine zweite mündliche Verhandlung ist nach der Rechtsprechung des EGMR auch bei Entscheidungen über Tatsachenentscheidungen entbehrlich, wenn ohne eigene Tatsachenermittlungen aufgrund der Aktenlage entschieden werden kann, nicht aber wenn der Fall schwierig ist und die tatsächlichen Fragen nicht einfach sind und erhebliche Bedeutung haben (Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 66). Bei Absatz 3 Satz 2 handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Das Gericht hat die Vorschrift konform mit der EMRK auszulegen und bei der Ausübung des Ermessens auch die Rechtsprechung des EGMR hierzu zu beachten.“

zitiert nach BT-Drs. 16/6308, 207, 208

Das Ermessen des Gerichts muss also richtig gebrauchen. Im Verwaltungsrecht sind als Fehler anerkannt  Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung, und die Verhältnismäßigkeit. Bausteine werden immer Ermessensnichtgebrauch sein.

Keine mündliche Verhandlung in der Beschwerde verletzt Art. 6 EMRK und Art. 103 GG, wenn neue Aspekte entstanden sind oder alte Aspekte nicht umfangreich gewürdigt sind. Es liegt an Euch, hierzu erschöpfend vorzutragen und eine Verhandlung zu erzwingen!

Michael Langhans, Volljurist

Die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung in FamFG Sachen verletzt daher das faire Verfahren nach Art. 6 EMRK, wenn entweder neue Tatsachen nach Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sind, auf die es ankommt, oder wenn in erster Instanz nicht bereits alle Aspekte ausreichend gewürdigt sind, was einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör darstellt. Hierzu habe ich in meinem Artikel zur Anhörungsrüge auch vorgetragen.

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Sorgerecht

Was ist Gatekeeping?

Gatekeeping wird häufig definiert als „Einstellungen und Verhaltensweisen eines Elternteils, die den Zugang des anderen Elternteils zum Kind regulieren, kann Gatekeeping Kontakt einschränken oder fordern“ (zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023).

Gatekeeping kann schädlich sein

Es wird daher manchmal vom „restriktiven“ und „facilitiativen“ Gatekeeping gesprochen .“

für eine Forschungsubersicht s. Schoppe-Sullivan/AltenburgerSchoppe-Sullivan/Altenburger, 2019

Gatekeeping ist also das, was oft auch als „Helicoptern“ bezeichnet wird: Überfürsorgliches Verhalten, das andere ausschließt und damit dem Kind schaden zufügen kann. Doch wie geht man in einer solchen Situation um?

Gatekeeping: Sachverhalt eruieren.

Beim Gatekeeping ist es zuvörderst wichtig, dass man den Sachverhalt ordentlich klärt – was gem. §26 FamFG im Verfahren Aufgabe des Richters wäre, der aber insoweit keine pädagogische-psychologische Ausbildung hat.

„Insgesamt begegnen den Fachkräften und Gerichten in Fällen mit ausgeprägtem mütterlichen Gatekeeping sowohl gut verborgene, aber reale Gefahren durch Umgang als auch stark verzerrte Wahrnehmungen. Daher
ist es unabdingbar, beide Möglichkeiten präsent zu halten, den Sachverhalt so gut wie möglich aufzuklären und die resultierenden Hinweise abzuwägen.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Konklusion: Nicht alles, was ein Elternteil erkennt oder bemängelt, muss real sein. Es gibt stark verzerrte Wahrnehmungen.

Gatekeeping führt zu stark verzerrter Wahrnehmung und muss daher Anlass des Gerichtes sein, nachzuforschen

Michael Langhans, Volljurist

Damit wird aber wie so oft der Finger in die Wunde gelegt: Man muss das Problem sehen wollen. Oftmals stellt sich aber in Verfahren dar, dass nur ein entfremdeter Elternteil negatives Gatekeeping bemerkt, die anderen nicht.

Gatekeeping: Lösungsansatze beim Umgang begehrenden Elternteil

Es verwundert ein wenig, aber selbst der, der Umgang wünscht, kann versuchen den anderen Elternteil positiv zu beeinflussen: Indem man diesen Teilhaben lässt.

„Zum anderen kann die Irritierbarkeit des Vertrauens in die Fürsorgekompetenz und Zuverlässigkeit des Vaters vermindert werden, wenn Absprachen eingehalten und Fotos bzw. Videos das Wohlergehen des Kindes beim Umgang dokumentieren. Dem verständlichen Wunsch von Vätern nach Abschottung der eigenen Zeit mit dem Kind nachzugeben, wirkt in diesen Fällen kontraproduktiv. „

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Vertrauen geben statt einfordern, so würde ich das zusammenfassen. Umgang muss nicht geheim erfolgen, sollte dann aber auch, wenn er stattfindet und dies kommuniziert wird und Bilder geteilt werden nicht zu einer kleinkarierten Kritik des anderen Elternteils führen.

Kompetenzbesserung des Umgangsgewährenden Elternteils hilft

Daher finde ich es gut, dass das Expertenteam um Fichtner, Kindler und Walper auch eine Kompetenzverbesserung des umganggewährenden Elternteils fordert.

„Unsicherheiten und Ängste von Müttern in der Elternrolle können das Bedürfnis nach Kontrolle über enge Beziehungen des Kindes verstärken, weshalb in der Jugendhilfe ein Zugang, der die Kompetenzen von Müttern
betont und fordert, prinzipiell auch Vater-Kind-Kontakten dient.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Jetzt muss man natürlich anmerken, dass Kompetenzverbesserung nicht heisst, dass der Elternteil vorher unfähig war. Jeder von uns kann noch besser werden. Einen Lösungsansatz, der beide Eltern verpflichtet, ist sicherlich einem einseitig kritisierenden vorzuziehen, um keine „Gewinner“ und „Verlierer“ zu gerieren.

Gatekeeping kann zu Kontaktproblemen führen

Unabhängig davon kann Gatekeeping also zu Entfremdung, Kontaktproblemen und Kontaktabbruch führen. Wie man dann vorgeht, habe ich in diesem Artikel beschrieben:

https://familienrecht.activinews.tv/sorgerecht/wie-geht-man-bei-entfremdung-kontaktproblemen-vor/
Kategorien
Sorgerecht

Wie geht man bei Entfremdung / Kontaktproblemen vor

Auch wenn die Thematik rund um Gardener/PAS/EKE alt und immer wieder am diskutieren ist, wird von keinem Experten ernstlich in Frage gestellt, dass es Kontaktprobleme zwischen Elternteil und Kind geben kann. Doch wie gehe ich bei Entfremdung vor? Wie gehe ich mit Kontaktproblemen um?

Ob man in diesem Zusammenhang lieber der Vorgehensweise von Baumann, Michel-Biegel, Rücker und Serafin, Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung in der ZKJ oder derjenigen von Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ebenfalls in der ZKJ folgen möchte, spielt dabei erst einmal keine Rolle. Wichtig ist, dass beide Meinungen Lösungsansätze darbieten. Ich selbst präferiere die erstere Vorgehensweise der Intervention:

Lösungsansatz 1: Schnelle Kontaktregelungen

  • Schnelle vorläufige Festlegung bindungserhaltender Kontaktregelungen
  • Hinführung zur Praxis paralleler Elternschaft
  • Verpflichtung der Eltern zur Teilnahme an psychologischer Beratung
  • Psychologischer und praktischer Beistand fur das betroffene Kind
zitiert nach Baumann, Michel-Biegel, Rücker und Serafin, Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung in ZKJ 7/22

Vorteil: Diese Lösung basiert auf bisherigen Hilfsangeboten und ist daher flächendeckend umsetzbar.

Michael Langhans, Volljurist

Die Gegenmeinung von Zimmermann et al. echauffiert sich sehr über die Schlüsse von Rücker und anderen, nutzt statt Entfremdung lieber den Begriff Kontaktprobleme, kommt aber auch zum Ergebnis, dass man einiges erst einmal herausarbeiten muss und insoweit die Ursachen der Kontaktprobleme diagnostisch bearbeiten muss:

Lösungsansatz 2: Diagnostik

„Erhoben werden sollen also Befunde insbesondere zu (a) Art und Austragungsform elterlicher Konflikte, einschließlich des Einbezugs des Kindes,
(b) Geschichte und Situation der elterlichen Zusammenarbeit (Co-Parenting),
(c) Art und Hintergründe der wechselseitigen Wahrnehmung beider Elternteile,
(d) Erleben und Umgangsweise beider Elternteile mit dem Verlauf der Trennung und der Aufgabe einer Neuorientierung für sich und das Kind,
(e) Geschichte und gegenwärtige Qualität der Beziehungen des Kindes zu jedem Elternteil,
(f) Belastung und Bewältigungsfähigkeiten des Kindes sowie die kindliche Wahrnehmung elterlicher Erwartungen und eigener Interessen,
(g) weitere Einflüsse von Geschwistern, Familienangehörigen und Fachkräften auf die Dynamik im Konfliktfall sowie
(h) Lösungsvorstellungen von Eltern und Kind.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Der Zweite Ansatz ist zu fachspezifisch, damit wird die Entscheidungsfindung wieder zu sehr in die Hände von Psychologen gelegt, von deren Qualität hängt damit auch ab, ob und wie es weitergeht.

Lösungsansatz 1 gibt dem Juristen umsetzbares Vorgehen an die Hand. Er ist zu präferieren.

Michael Langhans, Sorgerechtsexperte

Auch wenn es lobenswert ist, die Grundlagen eines Verhaltens zu verstehen, befürchte ich dass damit der Manipulation Tür und Tor geöffnet ist. Denn mit falschen oder unzureichenden Antworten kann man hier das Ergebnis beeinflussen.

Überhaupt wird doch aktuell in Verfahren zu sehr diskutiert und zu wenig gehandelt, wo doch Zeit ein wesentlicher Faktor ist.

Kinder wollen zu Umgang verpflichtet werden

Bekanntermaßen hat Dettenborn bereits vor langer Zeit klargestellt, dass auch Kinder bisweilen froh sind, zu Umgang „gezwungen“ zu werden, insbesondere wenn Entfremder am Werk sind.

„Das Kind ist eventuell froh, durch die Aufforderung zum Kontakt aus der Unentschlossenheit geholt zu werden. Das schließt Proteste gegen den Sozialarbeiter oder Richter, der Kontakt angeordnet hat, nicht aus. Sie sind meist eine Information an den manipulierenden Elternteil: Ich bin gezwungen zu gehen, es ist nicht meine Schuld.“

zitiert nach Harry Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 6. Auflage 2021, S. 118

Daher fußt Lösungsansatz 1 doch nur in dieser alten Weisheit, wie sie Dettenborn zu Papier gebracht hat. Daran ändert dann auch nicht, dass Kindler und Co. zu Recht darauf hinweist, dass das Helfersystem in der Hochkonflikthaftigkeit an ihre Grenzen stößt:

Es gibt zu wenig echte Angebote

„Schließlich stimmen wir zu, dass Hilfeangebote in geeigneten Fällen meist bei der Hochkonflikthaftigkeit der Eltern ansetzen müssen und neben den Chancen auch die Grenzen des Hinwirkens auf elterliches
Einvernehmen erkannt werden müssen.
(…)
Allerdings stellt die Hochkonflikthaftigkeit Fachkräfte der Trennungsberatung, wie eine aktuelle Umfrage zeigt ( Kindler/Eppinger, 2022), weiterhin häufig vor erhebliche Herausforderungen. Deshalb ist es nötig, spezialisierte Beratungs- und Hilfekonzepte für hochkonflikthafte Eltern, die sich als wirksam erwiesen haben (z.B. Retz , 2015; Visser/van Lawick, 2021), stärker zu fördern und flächendeckend auszurollen.“

zitiert nach Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023

Statt also darauf hinzuweisen, dass man flächendeckendere Hilfekonzepte benötigt, ist es m.E. wichtig, diese Hilfe darzutun; und deshalb finde ich die Lösungsansätze 1 verbindlicher. Sie sind ein pragmatischer Ansatz, der mit den bisherigen Angeboten umsetzbar ist und damit eine Lösungsmöglichkeit sein könnte. Denn Zeit, bis Beratungsangebote ausgerollt sind und dann dem Jurist bekannt sind, spielt nur dem in die Hände, der keine Lösung möchte. Mit den oben dargelegten Handreichungen kann man jedenfalls bei Entfremdung vorgehen.

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