Manchmal merkt man, dass man Richter:innen hoffnungslos überschätzt. Dies passierte unlängst am AG München, als sich in einem Beschluss ein(e) Richter:in zu Bindung äußerte wie folgt:
Der von (Name) geäußerte Wunsch keinen Kontakt mit der Mutter mehr zu wünschen entspricht auch den tatsächlichen Bindungsverhältnissen. Denn (Name) lebt nun seit ca. 7 Jahren mit Lebensmittelpunkt beim Vater, der Umgang mit der Mutter war äußerst inkonstant.
AG München 561 F 16038/23
Offenbar gibt es in diesem Land Richter:innen, die den Begriff „Bindung“ mit „Kontakt“ gleichsetzen. „Auch zeigte sich, dass nicht die Quantität der Beziehung zu einer oder mehreren Bezugspersonen ausschlaggebend für die Entwicklung einer bestimmten Bindung ist, sondern die Qualität. Bowlby nahm an, dass die ständige Verfügbarkeit der Bindungsperson in den ersten Lebensjahren unabdingbar ist, damit das Kind eine sichere Bindung entwickeln kann. Die Entwicklung der Bindung hänge aber nicht von der ständigen Anwesenheit der Bezugsperson ab, sondern vor allem von der entwickelten Qualität der Bindung“ (Dornes: Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre,1997.)
Dieser Unwissenheit helfen wir doch gerne ab, weshalb dieser Artikel (quasi „gesponsort“ durch das AG München) entsteht. Dabei ist die „range“ des Wissens hier gar nicht so weit, der Artikel soll nur einen groben Einblick in das Thema bilden.
Bindung
Bindung (engl.: attachment) ist die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen Menschen. Das Neugeborene entwickelt eine spezielle Beziehung zu seinen Eltern oder anderen relevanten Bezugspersonen. Die Bindung veranlasst das Kleinkind, im Falle objektiv vorhandener oder subjektiv erlebter Gefahr (Bedrohung, Angst, Schmerz) Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen zu suchen und zu erhalten. Bezugspersonen bzw. Bindungspersonen sind die Erwachsenen oder älteren Personen, mit welchen das Kind den intensivsten Kontakt in seinen ersten Lebensmonaten hatte (zitiert nach Wikipedia). Bindung ist also etwas Emotionales, eine innere Tatsache, kein Faktum des aktuellen Kontaktes. Dass also Richter so etwas begrifflich gleichsetzen, was man nicht gleichsetzen kann, was aber absolutes Grund(allgemein)wissen wäre, ist selbst als intellektueller Offenbarungseid zu freundlich formuliert.
In den 1970er Jahren entwickelte der englische Kinderpsychiater John Bowlby seine Bindungstheorie. Er bezeichnet als Bindungsverhalten das Verhalten des Kindes, mit dem es sich die Zuwendung einer Bezugsperson sichern möchte (z. B.: Das Kind weint, damit die Mutter bei ihm bleibt, wenn es in einer fremden Umgebung ist). (…) Fühlt sich ein Kind sicher gebunden, dann kann es die Umwelt erkunden. Fühlt es sich unsicher, so zeigt es das entsprechende Bindungsverhalten. Das bedeutet: Je besser die Qualität der Bindung ist, desto mehr ist ein Kind in der Lage, seine sichere Umwelt zu verlassen und eine ihm neue Welt zu entdecken. Dies ist auch Voraussetzung für Bildungs- und Lernprozesse. Bindung bietet Kindern Schutz und Hilfe und ist Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung. Das Bindungsverhalten ist genetisch (endogen) angelegt, benötigt jedoch Anregung und Unterstützung von außen, d. h. durch Bezugspersonen. (…)
Bowlby muss man also kennen und an diesen anknüpfend Mary Ainsworth. Letztere hat mit „„Strange Situation Test“ 1970–1978“ Testungen für die Bindungsmuster entwickelt. Konkret gings darum wie ein Kind reagiert, wenn es mit seiner Mutter in einem Raum ist, dann eine fremde Person dazu kommt und dann die Mutter kurz den Raum verlässt. Je nach Reaktion des Kindes geht man dann von einer sicher gebundenen Bindung, einer ängstlich-vermeidenden oder ängstlich-ambivalenten Bindung aus; seit den 90er Jahren gibt es nach Main & Salomon noch den unsicher-desorganisierten Bindungstypen.
Bowlby geht von der Mutter als Hauptbezugsperson aus. Zudem geht er von einer westlich geprägten Familienkultur aus. Zudem ist der Strange Situation Test künstlich und damit nicht natürlich und verursacht Stress. All das ist methodisch-ethisch nicht richtig.
Die vier Phasen der Bindungsentwicklung
Das Vierphasenmodell der Bindungsentwicklung nach Bowlby 1969 lautet:
Vorphase: bis ca. 6 Wochen
Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat
Eigentliche Bindung: 7./8. bis 24. Monat
Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2 / 3 Jahren
Eingriffe in der 2. und 3. Phase sind daher am entscheidendsten. Nur bis zum 3. Lebensjahr ist der Bindungstyp recht einfach zu eruieren (Wikipedia aaO).
Diagnosen mit Bezug auf die Bindung
Bindungsstörungen werden im ICD 10 nicht direkt abgebildet (Wikipedia aaO), finden sich aber teilweise in Diagnosen mit Bindungsbezug (Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (F94.1), Bindungsstörung des Kindesalter mit Enthemmung (F94.2), die je auf Vernachlässigung zurückgeführt werden) und Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1), Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0) und Störungen mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F91.2)(denen bindungstheoretische Konzepte zugrunde gelegt werden).
Das alles ist nur ein erster Einblick, um vorallem Richter:innen deutlich zu machen, dass man sich fachpsychologische Kenntnisse nicht anmaßen darf (und wenn, dass man dann zumindest halbwegs richtig argumentiert) – sagt zumindest der BGH im Beschluss vom 12.03.2024, VI ZR 283/21.
Wir erleben es in vielen Gutachten: Kinder werden als parentifiziert dargestellt. Doch was ist Parentifizierung, und ist diese immer schädlich?
Was ist Parentifizierung?
Parentifizierung bezieht sich auf die Situation, wenn Kinder die Rolle von Erziehungsberechtigten oder anderen Erwachsenen übernehmen und sich um Aufgaben und emotionale Bedürfnisse kümmern statt der Eltern, wie es üblicherweise der Fall sein sollte.
Rollenwechsel: Die Kinder übernehmen die Rolles des Betreuers oder Beraters, der auch emotionalen Halt für seine Eltern oder Geschwister darstellt und Verantwortung übernimmt (wenn ein Kind Aufgaben übernimmt, die für sein Alter unangemessen sind).
Fehlen der Bedürfnisse des Kindes : Die Notwendigkeit des Kindes nach Fürsorge, Vergnügen und Unbeschwertheit wird ignoriert.
Langfristige Auswirkungen der Parentifizierung können zu psychischen Problemen wie Ängsten führen und Depressionssymptome hervorrufen sowie Schwierigkeiten bei Beziehlungen und ein geringes Selbstwertgefühl verursachen.
Instrumentelle Parentifizierung beinhaltet, dass das Kind praktische Aufgaben im Haushalt übernimmt oder sich um andere Familienmitglieder kümmert.
Emotionale Parentifizierung tritt auf, wenn das Kind in die Rolle des Vertrauten der Eltern schlüpft und als emotionale Stütze dient.
Narzissten neigen dazu ihre Kinder für emotionale Unterstützung und Bestätigung zu missbrauchen anstatt sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kümmern.
Ursachen von Parentifizierung:
Psychische Gesundheitsprobleme bei Eltern
Schwierigkeiten mit Suchtmitteln bei Eltern
Elterliche Trennung oder Scheidung
Chronische Erkrankungen innerhalb der Familie.
Knappheit oder Geldprobleme
Es ist von Bedeutung zu betonen, dass nicht jede Art von Unterstützung im Haushalt oder das Übernehmen von Verantwortung als Parentifizierung betrachtet werden sollte. Erst wenn die Bedürfnisse des Kinders langanhaltend vernachlässigt werden und es dazu gezwungen wird, eine Rolle zu übernehmen, die es überfordert, wird es problematisch.
Ist jede Form von Parentifizierung schädlich?
Das kann mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Erstens kommt es auf die Ausprägung, also die Intensität an, zweitens vorallem auch welche Form vorliegt. Hier muss man zwischen destruktiver Parentifizierung und adaptiver Parentifizierung unterscheiden.
Parentifizierung ist solange nicht maßgeblich schädlich für die kindliche Entwicklung, wie sie die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes nicht über die Maßen einschränkt und das Kind psychisch nicht destabilisiert. Diese sogenannte adaptive Parentifizierung kann gelingen, wenn das Kind seine Sorgen und Ängste einer Person mitteilen kann und selbst Unterstützung erfährt.“
zitiert nach Anita Plattner u.a., Erziehungsfähigkeit kranker Eltern richtig einschätzen und fördern, 3. Auflage 2024
Positive Aspekte der Parentifizierung
Es gibt auch positive Aspekte der Parentifizierung, diese werden oft aber übergangen:
Fraglich ist jedoch, (…) ob sie unter anderen Bedingungen möglicherweise förderliche Aspekte für das Kind haben kann. Beispielhaft für eine Entwicklungsförderung sind berühmte Kinder psychisch kranker Eltern zu nennen, wie Hans-Peter Kerkerling oder René Magritte, der das bekannte und vielsagende Portrait einer Mutter und ihres Säuglings mit vertauschten Köpfen malte. (…). Auf Seiten des Kindes kann die Parentifizierung der Herstellung von einer emotional warmherzigen und verbindlichen Beziehung zu seinem Elternteil begünstigen, sodass das Kind insofern profitiert, als dass es auf diesem Wege Nähe zu seinem Elternteil erfährt (Ohntrup et. al. 2011).
zitiert nach Anita Plattner u.a., Erziehungsfähigkeit kranker Eltern richtig einschätzen und fördern, 3. Auflage 2024
Deshalb ist es wichtig genau hinzuschauen, zu hinterfragen, Fachliteratur heranzuziehen und dem übermäßigen Verwenden von „Fachbegriffen“ ohne Substanz und ohne geklärte Anknüpfungstatsachen Einhalt zu gebieten.
Unterscheidung Entziehung Minderjähriger im Inland und Ausland
Der Straftatbestand unterscheidet also zwischen In- und Ausland. Im Inland können Eltern – anders als Dritte – ein Kind nur entziehen, wenn diese Gewalt, eine Drohung oder List anwenden. Das ergibt sich aus Nr. 2, der „ohne Angehöriger zu sein“ erwähnt und den besonderen Einschränkungen der Nr. 1
Danach ist eine Entziehung Minderjähriger durch einen Eltern in Deutschland dem anderen Elternteil gegenüber nicht strafbar, außer es wird Gewalt oder eine Drohung/List angewandt – innere Tatsachen, die ohnehin nicht bewiesen werden können bzw. nur durch den Entzieher oder eine Aussage des betroffenen Kindes .
Für die Entziehung in das Ausland soll das nicht gelten. Denn dort ist es schwerer, das Sorgerecht durchzusetzen (BT-Drs 13/8587).
EU-Recht: Keine Unterscheidung innerhalb der EU, Art. 21 AEUV
Dem steht aber das Unionsrecht in Form der AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) entgegen. Art. 21 AEUV steht einer Anwendung des §235 Abs. 2 Nr. 1 StGB (also der Verbringung in das Ausland ohne List, Drohung, Gewalt) entgegen, weil jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
Das hat der EuGH in StV 2022, 638 so auch entschieden:
1. Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Pfleger entzieht, um es in das Ausland zu verbringen, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Entziehen, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.
2. Während in Deutschland die internationale Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil auf der Grundlage von § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB stets strafbar ist, verhält es sich anders bei der Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil, wenn das Kind im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten wird, da eine solche Tat nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar ist. (Rn. 45)
3. Eine Argumentation, dass es unmöglich oder übermäßig schwierig ist, die Anerkennung einer gerichtlichen Sorgerechtsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat und im Fall der internationalen Entführung eines Kindes seine sofortige Rückgabe zu erreichen, läuft darauf hinaus, die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzusetzen, und steht im Widerspruch zu den Regeln und zum Grundgedanken der Brüssel IIa-VO. (Rn. 48)
4. Die Brüssel IIa-VO ist auf den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützt. Letzterer verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass er davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. (Rn. 49)
1. Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem bestellten Pfleger in einem anderen Mitgliedstaat vorenthält, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Vorenthalten, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht. (Rn. 50)
2. Während in Deutschland die internationale Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil auf der Grundlage von § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB stets strafbar ist, verhält es sich anders bei der Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil, wenn das Kind im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten wird, da eine solche Tat nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar ist. (Rn. 45)
3. Eine Argumentation, dass es unmöglich oder übermäßig schwierig ist, die Anerkennung einer gerichtlichen Sorgerechtsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat und im Fall der internationalen Entführung eines Kindes seine sofortige Rückgabe zu erreichen, läuft darauf hinaus, die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzusetzen, und steht im Widerspruch zu den Regeln und zum Grundgedanken der Brüssel IIa-VO. (Rn. 48)
4. Die Brüssel IIa-VO ist auf den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützt. Letzterer verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass er davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. (Rn. 49)
Der EuGH kommt also zu dem Ergebnis, dass eine Bundestagsdrucksache mit wesentlichen Grundgedanken der Europäischen Union nicht vereinbar ist. Diese harte Kritik muss man erst einmal auf sich sacken lassen. Aber eigentlich ist sie ja logisch.
Entziehung von 10 Metern konnte früher strafbar sein
Wenn man früher nur über eine „grüne“ Grenze ging, konnte dies bereits strafbar sein. Wenn also ein Elternteil einen Tagesausflug ohne Zustimmung des anderen ins EU-Ausland machte, konnte dies strafbar sein – Urlaube auch, soweit hierdurch das Kind dem anderen entzogen wurde (zu spät zurückgebracht, Umgangsausfall usw.). Dass es keinen Unterschied machen kann, ob ich von Karlsruhe nach Straßburg fahre oder von Berlin nach Hamburg, versteht sich eigentlich von selbst. Noch deutlicher wird dies, wenn eine Multinationale Beziehung zu dem Kind geführt hat, weil ein Niederländer, der nach Hause geht, sich kaum strafbarer machen kann als sein Arbeitskollege, der Deutscher ist und genauso weit nach Hause geht – nur nicht über die Grenze.
Bedeutung
Absatz 2 des §235 StGB hat daher nur noch außerhalb der EU Bedeutung. Sinnvoller wäre es aber, einfach die Unterscheidung zwischen Abs. 1 und 2 abzuschaffen. Das wäre klarer für alle beteiligten.
In die folgenden Länder kann man daher sein Kind bedenkenlos mitnehmen, auch gegen den Willen eines Elternteils oder Ergänzungspflegers:
Eine Aufforderung zur Entziehung Minderjähriger möchte ich hierin aber nicht sehen. Ein Kind braucht nämlich seine Eltern. Aber für den Widerstand gegen eine überbordende Staatsgewalt mag die Kenntnis dieser Entscheidungen von erheblicher Bedeutung sein.
Mein erstmals 2016 erschienenes Buch „Wichtige Entscheidungen im Sorgerecht“ ist in der neuen Auflage (4. Auflage 2024) nunmehr verfügbar. Mit der neuen Auflage geht auch einher, dass die Reihe „Ratgeber Familienrecht“ in „Essener Schriftenreihe zum Kindschaftsrecht“ umbenannt und neu designed wurde. Damit einher gehen nicht nur Erweiterungen des Inhalts, sondern auch Kürzungen. Die bisher im Buch vorhandenen Entscheidungen zum Umgangsrecht wurden entfernt und werden bald in einem neuen Band gebündelt und konzentriert. Dadurch soll nicht nur die Lesbarkeit erhalten bleiben und das Buch nicht zu dick werden, sondern auch den spezifischen Interessen der Leserschaft Rechnung getragen werden.
Das Buch wird ab sofort 123 Seiten dick sein (von früher 153 Seiten), was aber auch dem neuen inhaltlichen Design geschuldet ist, das platzsparender daherkommt als das bisherige Design.
Erweitert um Entscheidungen zum Polygrafen
Neu hinzugekommen sind nicht nur Entscheidungen zum Polygrafen, sondern auch wichtige neue Entscheidungen zu Gutachten und Sorgerechtsentzug.
Das bewährte Konzept einer hervorragenden Handreichung für das Verfahren bleibt dabei erhalten, wird auf den Punkt gebracht und erweitert.
Weitere Ausgaben zu weiteren Themen sind in Vorbereitung.
Entfremdung oder „Kontaktprobleme“ ist Körperverletzung und betrifft beider maßen Väter und Mütter – egal, wer welche Kampagne gegen wen fährt (vgl. mein Artikel hier).
Wie komme ich dazu, wo doch die Auswirkungen der Entfremdung „umstritten“ sein sollen (vgl. Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023; BVerfG 1 BvR 1076/23)?
Nun, zum einen ist es ein Fakt, dass es Entfremdungen gibt, also Kinder die einen oder beide Elternteile nicht sehen wollen oder nicht sehen dürfen. Seit vielen Jahren ist dabei wissenschaftlich geklärt, dass Umgang mit den Eltern für alle Beteiligten positive Aspekte haben.
Positive Aspekte von Umgang
Dettenborn und Walter kommentieren hierzu in „Familienrechtspsychologie“ das folgende:
„Unmittelbare Vorteile für das Kind ist die Beachtung des Willens, Selbstwirksamkeit, Situationskontrolle, erleichterte Scheidungsverbund, Entlastung der Beziehung zum betreuenden Elternteil, Entlastung der Beziehung zu außenstehenden,
Für den betreuenden Elternteil Entlastung, Stressreduktion, mehr Freistunden,
Für den umgangsberechtigten Elternteil Befriedigung emotionaler Bedürfnisse gegenüber dem Kind, Möglichkeit die fortgeltende Elternverantwortung wahrzunehmen und Information und Teilhabe bezüglich der Kindesentwicklung,
Während die langfristigen Vorteile beim Kind normgemäße Persönlichkeitsentwicklung mit Sozial- und Selbstkompetenz, Leistungshaltung und Vorsorge für Notsituationen besteht,
Für den betreuenden Elternteil eine stabile altersgemäße Kindesentwicklung, ein entspanntes Langzeitverhältnis zum Kind, und Vermeidung von Idealisierung des umgangsberechtigten Elternteils sowie vermeiden von Unlustspannungen, Schuldgefühlen Aggressionsspiralen, Erziehungssackgassen und Abhängigkeiten“
zitiert nach Dettenborn und Walter, Familienrechtspsychologie, 4. Auflage 2022, S. 251
Das heißt aber im Umkehrschluss, dass kein Umgang eben auch eine negative Beeinflussung dieser Situation hat, vorallem für das Kind, aber auch die Eltern.
Kein Umgang bedeutet
Keine normgemäße Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
Probleme bei der Sozial- und Selbstkompetenz des Kindes
Keine Information über die Entwicklung des Kindes und damit kein Eingriff bei Negativentwicklungen für den umgangsberechtigten Elternteil
Keine Befriedigung emotionaler Bedürfnisse des umgangsberechtigten Elternteils
Kein entspanntes Langzeitverhältnis zum Kind für den hauptbetreuenden Elternteil
usw.
Wieso ist Entfremdung Körperverletzung?
Die strafrechtliche Definition der Körperverletzung (§223 StGB) lautet: Eine Körperverletzung ist eine unangemessene und üble Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden des Einzelnen in nicht unerheblicher Weise beeinträchtigt wird (vgl. z.B. Uni Potsdam hier). Dabei kann bereits das Abschneiden von Haaren eine solche Körperverletzung sein (hier). Denn auf Schmerzen kommt es nicht an.
Etwas anderes ist es freilich bei rein psychologischer Auswirkung. Hierzu hat der BGH folgendes festgestellt:
„Rein psychische Empfindungen genügen bei keiner Handlungsalternative, um einen Körperverletzungserfolg gemäß § 223 Abs. 1 StGB zu begründen (BGH, Urteil vom 9. Oktober 2002 – 5 StR 42/02, BGHSt 48, 34, 36; vgl. ferner BGH, Beschluss vom 11. Juli 2012 – 2 StR 60/12, NStZ-RR 2012, 340 f.; OLG Düsseldorf, NJW 2002, 2118; Meyer, ZStW 115 (2003), 249, 261). Wirkt der Täter auf sein Opfer lediglich psychisch ein, liegt eine Körperverletzung daher erst dann vor, wenn ein pathologischer, somatisch-objektivierbarer Zustand hervorgerufen worden ist, der vom Normalzustand nachteilig abweicht (BGH aaO S. 36 f.; Urteil vom 31. Oktober 1995 – 1 StR 527/95, BGHR StGB § 223 Abs. 1 Gesundheitsbeschädigung 2). Bloß emotionale Reaktionen auf Aufregungen, wie etwa starke Gemütsbewegungen oder andere Erregungszustände, aber auch latente Angstzustände, stellen keinen pathologischen Zustand und damit keine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB dar (Senatsbeschluss vom 5. November 1996 – 4 StR 490/96, NStZ 1997, 123).“
Nur massive und dauerhafte Angst ist Körperverletzung
Eine Anpassungsstörung reicht insoweit alleine nicht aus (aaO), diese hat keinen Krankheitswert. Auch Schlafstörungen müssen nicht zwingend ausreichen, es kommt hier auf die Intensität an (aaO).
Auch zeitlich befristete Angst reicht nicht aus:
Angst als solche stellt jedoch – insbesondere wenn die Reaktion „zeitlich begrenzt“ bzw. „kurzfristig“ auftritt – lediglich eine Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens und eine normale Reaktion auf Bedrohungen, nicht aber einen pathologischen Zustand dar (Senatsbeschluss vom 5. November 1996 – 4 StR 490/96, NStZ 1997, 123; vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2012 – 2 StR 60/12, NStZ-RR 2012, 340 f.; OLG Köln, NJW 1997, 2191, 2192; NK-StGB/Paeffgen, 4. Aufl., § 223 Rn. 11a)
Gleichwohl weist das OLG Köln darauf hin, dass eine Angst eine Kindeswohlgefährdung darstellt, wenn diese aufgrund der Bindungsintoleranz hervorgerufen wurde:
Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundeverfassungsgericht, dass die seelische Entwicklung des Kindes durch das anhaltende massive Hervorrufen von Ängsten gegenüber dem umgangsberechtigten Elternteil infolge der defizitären Bindungstoleranz des umgangsverpflichteten Elternteils insbesondere im Zusammenhang mit einem verschärften Elternkonflikt eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls darstellen kann, die die Gefährdungsgrenze des § 1666 Abs. 1 BGB erreichen und zu einem Eingriff in das Sorgerecht Veranlassung geben kann (BVerfG, Beschluss vom 27.11.2020 – 1 BvR 836/20, FamRZ 2021, 753).“
OLG Köln, Beschluss vom 11.07.2022 – 14 UF 34/22
Soweit Ängste also massiv sind, also ein Dauerzustand, liegt keine „kurzfristige“ oder „zeitlich begrenzte“ Angst als Reaktion vor; damit liegt eine Körperverletzung vor.
Dasselbe gilt, wenn die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt ist und insbesondere dauerhaft die Sozial- und Selbstkompetenz des Kindes beeinträchtigt sind.
Dasselbe gilt freilich, wenn bei einem Elternteil dauerhafte und massive Auswirkungen vorliegen. Es empfiehlt sich insoweit, eine Diagnostik einzuholen oder ein Attest, um Dauer und Intensität zu belegen.
Strafrecht vs. Familienrecht
Dass dabei die Hürden im Strafrecht andere sind als im Familienrecht, ist normal. Denn letzteres setzt bereits bei einer konkreten, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr ein, deren Verwirklichung bevorstehen muss, während für das Strafrecht ein Körperverletzungserfolg vorsätzlich erfolgt sein muss.
Und damit ist Entfremdung Körperverletzung und ein Fakt – egal ob man diesen Fakt Kontaktprobleme oder anders nennt.
Und: Wenn Umgang aus guten Gründen nicht erfolgt, dann ist es auch keine Entfremdung – bei Gewalt oder fehlender Bindung. Dieser feine Unterschied wird ja oft vergessen.
Wir erleben das immer wieder: Ein Elternteil sagt, dass sich das/die Kind(er) gegen Umgang ausgesprochen hat, gleich aus welchen Gründen. „Ich kann mein Kind doch nicht zwingen“ oder „ich respektiere seinen Willen“ sind dabei schnell gesprochen, oftmals aber fachlich und rechtlich falsch. Denn bis zu einem Alter von ca. 8 Jahren sind Kinder mit überschaubarem elterlichen Einsatz zum Umgang zu bewegen.
Bis 8 Jahre sind Kinder einfach zum Umgang zu bewegen
„Die Rechtsprechung geht davon aus, dass das Kind bis zum Alter von 6-8 Jahren in der Regel mit erzieherisch überzeugendem Auftreten zum Umgang bewegt werden kann, bei Kindern ab etwa neun bis elf Jahren wird von einer derartigen Einwirkungsmöglichkeit nicht mehr ausgegangen.“
zitiert nach Josef Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, 7. Auflage 2020, Rn. 523
Zur Schule und zum Umgang „muss“ man bisweilen auch
Wichtig ist hierbei freilich, dass das keine starren Grenzen sind. Sie verdeutlichen aber, was Eltern unternehmen können, wenn angeblich oder tatsächlich ein Kind sich gegen Umgang ausspricht. Und andere Dinge wie Schule, Hobby, Sport und Besuche bei den Großeltern „muss“ man bisweilen auch einfach erledigen:
„Zu Recht fragt Duderstadt (2020), ob so viel Ohnmacht auch vorgegeben würde (d.h. das Kind nicht zwingen zu können), wenn sich das Kind weigern würde, zur Schule zu gehen.“
zitiert nach Harry Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 6. Auflage 2021, S. 95
Rechtsprechung zum Umgang „müssen“
Insbesondere das OLG Frankfurt in FamRZ 2013, 475 und das OLG Saarbrücken in FamRZ 2013, 48 haben sich hiermit auseinandersetzen müssen.
„Die Beschwerdeführerin trägt vor, sie habe in langwierigen Gesprächen versucht, das Kind auf die bevorstehenden Umgangskontakte einzustimmen und die Gründe für seine Umgangsverweigerung zu erfragen. Es sei ihr nicht gelungen, die Blockadehaltung des Kindes zu überwinden. Sie sei nunmehr ratlos und wisse nicht, mit welchen erzieherischen Mitteln sie noch auf das Kind einwirken könne. Dieser Vortrag mutet angesichts des Umstands, dass das Kind am 8.2.2012 gerade einmal vier Jahre alt geworden ist, hanebüchen an. Ein Kind in diesem Alter kann auch gegen seinen Willen ohne Weiteres dem Vater übergeben werden mit dem Bemerken, dass Vater und Mutter das so vereinbart haben und das so wollen.“
OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 28.6.2012 – 4 WF 122/12, BeckRS 2013, 5187
Dieser Vortrag (dass die Mutter ratlos sei und auf ihr Kind nicht einwirken könne) mutet angesichts des Umstands, dass das Kind am 8.2.2012 gerade einmal vier Jahre alt geworden ist, hanebüchen an.
OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 28.6.2012 – 4 WF 122/12, BeckRS 2013, 5187
OLG Frankfurt geht davon aus, dass sich Weigerungshaltung schnell legt
Und als würden diese deutlichen Worte – die durchaus Zweifel an der Erziehungsfähigkeit wecken dürften – nicht genügen, legt das OLG Frankfurt einen oben auf:
„Der Senat verkennt dabei nicht, dass auch der Vater und seine Bevollmächtigte durch ihr Verhalten zur erneuten Zuspitzung des Konflikts auf der Elternebene beigetragen haben und dass das betroffene Kind durch diesen Konflikt belastet wird und hierauf, insbesondere in der Übergabesituation, mit Verweigerung reagiert. Dieser Umstand berechtigt die Mutter – wie dargestellt – jedoch nicht, eine Herausgabe des Kindes zu den vereinbarten Umgangskontakten zu verweigern. Eine mit den vereinbarten Umgangskontakten einher gehende Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr geht auch der vom Amtsgericht beauftragte Sachverständige von einer positiv besetzten und für das Kind bedeutsamen Bindung zum Vater aus. Vor diesem Hintergrund ist, worauf bereits das Amtsgericht hingewiesen hat, sogar zu erwarten, dass sich die für ein Trennungskind dieses Alters keineswegs ungewöhnliche Weigerungshaltung sehr schnell legen würde, wenn das Kind erst einmal seinem Vater übergeben wäre.“
OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 28.6.2012 – 4 WF 122/12, BeckRS 2013, 5187
Das OLG Saarbrücken: Nur echter Wille berücksichtigbar
Das OLG Saarbrücken führt hierzu aus:
„Der genaue Umfang der erforderlichen Ermittlungen richtet sich nach den im konkreten Einzelfall betroffenen Kindeswohlbelangen (BGH FamRZ 2011, 796; 2010, 1060, jeweils m. Anm. Völker). Dazu gehört – bei der hier vorliegenden Problemstellung des Umgangsausschlusses wegen einer vom Kind verbal geäußerten Ablehnung von Umgangskontakten – jedenfalls die möglichst zuverlässige Feststellung des wahren Kindeswillens. Denn der vom Kind geäußerte Wille hat nicht nur Erkenntniswert hinsichtlich seiner persönlichen Bindungen auch zum Umgangsberechtigten (vgl. BVerfG FamRZ 2007, 1078; vgl. – zum Sorgerecht – auch BVerfG FamRZ 2008, 1737; BGH FamRZ 1990, 392), sondern ist mit zunehmendem Alter auch als Ausdruck der Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit bedeutsam (§ 1626 Abs. 2 S. 2 BGB; dazu BVerfG FamRZ 2007, 105; 2008, 845; vgl. ferner – zum Sorgerecht – BVerfG FamRZ 2008, 1737). Weil der Kindeswille nur insoweit zu berücksichtigen ist, als er dem Kindeswohl entspricht (BVerfG FamRZ 1981, 124; 2008, 1737), und in tatsächlicher Hinsicht in Rechnung zu stellen ist, dass ein durch einen Elternteil maßgeblich beeinflusster Kindeswille nicht beachtlich ist (vgl. BGH FamRZ 1985, 169; vgl. auch BVerfG FamRZ 2009, 399), muss das Kind im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhalten, seine wirklichen persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen (vgl. BVerfG FamRZ 2010, 1622; 2009, 399 und 1897).“
OLG Saarbrücken in FamRZ 2013, 48
Ein maßgeblich beeinflusster Wille ist eben unbeachtlich.
Damit gilt: Bei Kindern bis acht Jahren gibt es kaum Gründe, Umgänge ausfallen zu lassen – soweit eben keine Gründe für einen Umgangsausschluss (wie Gewalt, Missbrauch, Desinteresse oder fehlende Bindung) vorliegen.
Konkrete Bemühungen beweisen
Dabei hat bereits der Gesetzgeber in den BT-Drucksachen deutlich gemacht, dass „einfach so“ ein „das Kind will nicht“ nicht ausreicht. Stattdessen muss man konkrete Bemühungen, also positive Einwirkungen auf das Kind, nachweisen.
„Beruft sich etwa ein Elternteil nach Zuwiderhandlung gegen eine gerichtliche Umgangsentscheidung auf den entgegenstehenden Willen des Kindes, wird ein fehlendes Vertretenmüssen nur dann anzunehmen sein, wenn er im Einzelnen darlegt, wie er auf das Kind eingewirkt hat, um das Kind zum Umgang zu bewegen.“
Dem schließt sich die Rechtsprechung und die Kommentarliteratur an:
Zwar gilt § 26 prinzipiell auch im Rahmen des § 89 und auch im Hinblick auf das Verschulden des Pflichtigen (B/H/S Rn. 11). Jedoch verlangt IV 1, dass der Pflichtige die Umstände, aus denen sich sein fehlendes Verschulden ergibt, vorträgt, und legt ihm damit eine verstärkte Mitwirkungspflicht auf. Er hat die Umstände im Einzelnen darzutun, da diese regelmäßig seiner Sphäre entstammen; misslingt ihm dies, kann von der Anordnung von Ordnungsmitteln nicht im Hinblick auf das fehlende Verschulden abgesehen werden (KG BeckRS 2016, 08685; BT-Drs. 16/6308, 218). Somit wird das Verschulden zu Lasten des Pflichtigen vermutet und damit im praktischen Ergebnis eine dem Beibringungsgrundsatz entsprechende Situation hergestellt (s. statt vieler nur OLG Karlsruhe FamRZ 2015, 2000 Rn. 10; anders OLG Hamm FamRZ 2016, 1105 Rn. 14, wonach das Verschulden stets durch Vollbeweis positiv nachgewiesen werden müsse).
Für die Juristen heißt das: Fixen Umgang möglichst vor dieser Schwelle von 8 Jahren festzurren. Danach ist es immer noch möglich, aber eben auch umfangreicher.
Die Kindesanhörung ist ein elementarer Bereich in Familiensachen. In diesem Beitrag möchte ich zur Grundlage, typischen Fehler und Problemen Stellung nehmen und zur Aufklärung beitragen – auch wenn leider viel durch das Gericht geregelt wird. Manche Probleme liegen auch darin, dass und wie Verfahrensbeistände mit Kindern (nicht) umgehen.
Die Grundlage der Kindesanhörung findet sich in der UN Kinderrechtskonvention, dort Art. 12, im FamFG und auch in Entscheidungen des BVerfG.
UN-Kinderrechtskonvention
Art. 12 CRC lautet:
(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. (2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.
Im deutschen Recht findet sich die Regelung im FamFG in §159 Abs.1 und 4 FamFG
§159 I FamFG lautet
(1) Das Gericht hat das Kind persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen.
(4) 1Das Kind soll über den Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in einer geeigneten und seinem Alter entsprechenden Weise informiert werden, soweit nicht Nachteile für seine Entwicklung, Erziehung oder Gesundheit zu befürchten sind.
2Ihm ist Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
3Hat das Gericht dem Kind nach § 158 einen Verfahrensbeistand bestellt, soll die persönliche Anhörung und die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in dessen Anwesenheit stattfinden.
4Im Übrigen steht die Gestaltung der persönlichen Anhörung im Ermessen des Gerichts.
In seiner Leitentscheidung 1 BvR 349/80 hat das Bundesverfassungsgericht vorallem die zu ermittelnden Grundlagen konkretisiert:
Bindungen des Kindes
Neigungen
Wille des Kindes
1 BvR 349/80
Natürlich sind das alles auch psychologische Kriterien. Aber letztlich geht es vor allem darum, dass das Kind seine Meinung kund tun kann, gleichzeitig das Gericht aber auch sich vom Zustand des Kindes überzeugen kann.
Recht zur Äußerung in der Kindesanhörung, aber keine Pflicht
Es besteht also nur ein Recht zur Äußerung, keine Pflicht. Hierin liegt dann aber schon die größte Hürde für das Gericht, das im wesentlichen alles selbst gestalten kann: Dem Kind ist die Möglichkeit zu geben sich zu äußern, und das beinhaltet auch das Recht nichts zu sagen (vgl. insoweit Carl in Carl, Clauss und Karle, Kindesanhörung im Familienrecht rechtliche und psychologische Grundlagen sowie praktische Durchführung 2015, S. 33, Rn. 90). Das Gericht muss also damit leben, wenn nichts bei rauskommt (Carl aaO).
Insbesondere sollte dann das Gericht nicht das Kind mit penetranten Fragen fragen und in den innersten Bereich des Kindes eindringen (FamRZ 1990, 1383, 1385).
Bedeutung der Kindesanhörung
Die Kindesanhörung könnte dem Kind die Erfahrung vermittern, dass das Kind als eigene Person respektiert wird, was das Selbstwertgefühl des Kindes stärkt und ihm Selbstvertrauen gibt (vgl. Carl aaO S. 32). Das Kind soll lernen, indem es respektiert wird, andere zu respektieren. Das ist halt ein Problemchen, weil oftmals genau dieser Sinn nicht erreicht wird und Erwachsene vieles nicht erfüllen können oder wollen, weshalb die verfassungsrechtliche Bedeutung leider oft relativ schlecht umgesetzt wird.
Fragen zur Kindesanhörung
Ich darf einige Fragen und Antworten zur Kindesanhörung mitteilen:
Reicht es aus, ein Kind nur zu beobachten?
Nein. Das Kind muss sich äußern können, wobei Säuglinge oder Kleinkinder altersbedingt sich über Körpersprache äußern.
Darf ein Dolmetscher dabei sein?
Kinder und Erwachsene sollten sich immer in der wichtigsten Sprache, ihrer Bindungssprache, austauschen. Das heißt, dass also vor allem ein Dolmetscher verpflichtend sein muss, wenn die Ursprungssprache nicht Deutsch ist.
Muss die Kindesanhörung persönlich sein?
Ja, wobei persönlich als Kommunikation zwischen zwei Personen bei zeitgleicher Anwesenheit beider Gesprächspartner meint, was m.E. auch Onlinesitzungen ermöglicht.
Dürfen Eltern mit anwesend sein?
Das Gericht entscheidet über den Ablauf der Kindesanhörung. Eltern können also zugelassen werden, müssen es aber nicht. Der Zweck der Anhörung, dass das Kind seine Sicht unbeschwert darstellt, muss erreichbar sein.
Muss der Verfahrensbeistand anwesend sein?
Das Gesetz sieht nur vor, dass der Verfahrensbeistand (kurz VB) mit anwesend sein soll; dies bedeutet also, dass es durchaus abweichende Regeln geben kann, vor allem aber auch das Kind seinen Wunsch einbringen kann, ohne Verfahrensbeistand auszusagen. Es gilt: Immer wenn ein Kind nicht mehr frei sprechen kann, ist das Setting anzupassen (vgl. Hohmann-Dennhardt in ZfJ 2001, 77, 80). Der Deutsche Familiengerichtstag empfahl von einer Anhörung des Kindes im Beisein des Verfahrensbeistandes abzusehen, wenn das Kind dies wünscht (Arbeitskreis 11 des 19. DFGT, Ziff. 1).
Darf der Verfahrensbeistand Fragen stellen oder für das Kind antworten?
Grundsätzlich sollte dies unterbleiben; das Kind hat ein Recht auf Anhörung, Dritte äußern sich im Termin (Heilmann in Salgo, Zenz, Fegert, Bauer, Lack, Weber, Zitelmann, Rn. 1495)
Wie lange darf eine Kindesanhörung dauern?
Um den Zweck der Anhörung nicht zu verfehlen, sollte die Anhörung nicht zu kurz sein (Carl aaO, S. 65)
Sind Wortprotokolle üblich oder Videoaufnahmen?
Leider werden Video- und Tonaufzeichnungen abgelehnt und sind nicht üblich (Carl aaO S. 67). Eine Pflicht auf ein Wortprotokoll gibt es nicht, was (unabsichtliche) Manipulationen ermöglicht.
Keine Ausforschung der Kinder
Das Gericht sollte die Kindesanhörung aber nicht nutzen, um „Beweise“ gegen die Eltern zu erlangen. Auch wenn die Kindesanhörung der Sachaufklärung dient, liegt der Focus darauf, dass das Kind sagt was es denkt und will. Hier können zwar Fragen durch das Gericht hilfreich sein, um dem Kind in der Äußerung zu helfen. Diese sollten aber nicht, und schon gar nicht ohne die Kinder über negative Konsequenzen aufzuklären, den Kindern das Gefühl vermittelt werden, sich gegen die Eltern zu stellen. Das würde einen Loyalitätskonflikt hervorrufen, des es zu vermeiden gibt.
Ich gebe zu, meine Überschrift ist ein wenig provokant formuliert, aber sie ist eben auch angelehnt an die Headline des „Volksverpetzers“, der einen Artikel im Stern mit der Überschrift „WIE „STERN“ AUF VÄTERRECHTLER-PROPAGANDA HEREINFIEL“ kommentiert und dabei ausreichend Faktenfehler ausführt, so dass das klassische Bild „wer mit einem Finger auf andere (Stefan Rücker) zeigt, der zeigt mit 4 Fingern auf sich selbst“ hervorragend erfüllt ist.
Vorneweg: Es gibt keine Väter- oder Mütterrechtler oder -rechte, sondern allenfalls Familien- oder Kinderrechte/-rechtler. Wer die Rechte eines Elternteils über den anderen stellt, verweigert sich dem deutschen rechtlichen Prinzip des Kindeswohls, das über allem thront. Ob dabei ein Artikel im Stern dieselben Standards wie ein Aufsatz in der ZKJ erfüllen muss, bleibt durchaus kontrovers zu diskutieren…
Unbequeme Wahrheiten des Dr. Stefan Rücker als Problem?
Für mich ist die Quintessenz des Artikels des Volksverpetzers, dass man offenbar mit den Ansichten von Dr. Stefan Rücker (und anderen!) nicht d’accord geht. Der Volksverpetzer meint, er habe die folgende Mission:
„Uns ärgern Hass, Hetze, Fake News und Verschwörungsmythen in Social Media genau wie alle anderen. Auch als einfache Engagierte wollen wir dagegen etwas tun. Als Anti-Fake-News-Blog versuchen wir, die tolle Arbeit anderer Faktencheck-Projekte mit kreativen Aktionen, Witz, Satire und ebenso ausführlichen Recherchen zu ergänzen.“
Wie man Hass mit Hass bekämpft, das sollen die „Verpetzer“ für sich selbst eruieren. Wie man aber in einem Faktencheck so deutlich machen kann, dass man keine Fakten checkt, weil man weder die Kompetenzen noch das wissenschaftliche Know how hat, das ist schon erstaunlich. Offenbar geht es eben darum, dass man mit den Ergebnissen von Rücker nicht leben möchte. Und daher losballert, ohne vorab ausreichend neutral zu recherchieren. Deshalb erlaube ich mir auf einige offenkundige Fehler hinzuweisen, die die Geisteshaltung dieses Artikels des Volksverpetzers belegen.
Faktenfehler des Volksverpetzers
Von einer schlechten Recherche zu sprechen, wäre dabei recht beleidigend jedem gegenüber, der sich mit Recherchen auseinandersetzt.
Konkret geht es um die folgende Aussage:
In einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2023 (1 BvR 1076/23) wird das Konzept der sogenannten Eltern-Kind-Entfremdung als „überkommen“ bezeichnet, es gelte „fachwissenschaftlich als widerlegt“. In dem Beschluss hieß es, das angeführte Konzept „genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht“.In einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2023 (1 BvR 1076/23) wird das Konzept der sogenannten Eltern-Kind-Entfremdung als „überkommen“ bezeichnet, es gelte „fachwissenschaftlich als widerlegt“. In dem Beschluss hieß es, das angeführte Konzept „genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht“.
Gelesen oder verstanden scheint man aber das zitierte BVerfG nicht. Denn dort wird gerade nicht Eltern-Kind-Entfremdung als überkommen bezeichnet, dafür aber das PAS Syndrom
Die Entscheidung stellt sich derzeit auch nicht aus anderen Gründen einfachrechtlich als zutreffend dar. Mit der vom Oberlandesgericht herangezogenen Eltern-Kind-Entfremdung wird auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (kurz PAS) zurückgegriffen. Das genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht. Soweit ersichtlich besteht nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils oder für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils (vgl. umfassend Zimmermann/Fichtner/Walper/Lux/Kindler, in: ZKJ 2023, S. 43 ff., und dies. in: ZKJ 2023, S. 83 ff.)
Einseitige Argumentation des BVerfG mit erheblichen Mängeln
Das BVerfG setzt sich dabei nur mit dem Aufsatz „Verdorbener Wein in neuen Schläuchen“ auseinander, nicht aber mit dem Aufsatz, der diesem Aufsatz zugrunde liegt (Baumann, Michel-Biegel, Rücker und Serafin, Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung in ZKJ), was bereits wenig ausgewogen ist. Aber darauf kommt es vorliegend nicht an, weil der Begriff des PAS als überkommen, nicht aber das Konzept der Eltern-Kind-Entfremdung kritisiert wird – ein feiner, wenn auch folgenschwerer Unterschied für jemand, der sich als Faktenchecker bezeichnet. Dass man freilich den Artikel von Zimmermann et all nicht gelesen hat, der zumindest auch Kruk und Adamsons&Johnson zu Entfremdungsfolgen zitiert und zumindest schwache statistische Nachweise anerkennt und darüber hinaus 2 der drei wichtigsten Ursachen für Entfremdungen auf weiblicher Seite verortet („Die drei wichtigsten Einflussfaktoren auf eine Ablehnung des Vaters waren (in der Reihenfolge der Stärke der Einflusse) fehlende Wärme in der Beziehung des Kindes zum Vater, Trennungsängste der Mutter und ein mütterliches Untergraben der Beziehung zum Vater.“, Zimmermann et al aaO) wird dabei ebensowenig erkannt wie die Tatsache, dass die Autoren aus dem Süden den Begriff der Eltern-Kind-Entfremdung durch den Begriff der „Kontaktprobleme“ ersetzen und damit aus Raider einfach Twix wird (Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix, https://www.youtube.com/watch?v=DzlsLrSOuB0) Dass man sich dann weder mit den Co-Autoren Rückers auseinandersetzt (deren Reputation denen der Südautoren in nichts nachsteht), verdeutlicht, dass man den vermeindlich erkannten Hass von Väterrechtlern mit Hasspropaganda der Gegenseite bekämpft – ein Kunststück, das wirklich erwähnenswert ist.
EGMR Rechtsprechung scheint dem Volksverpetzer bei seiner Recherche unbekannt geblieben
Weiter wird natürlich, aber auch das dürfte an mangelnder Kenntnis der (Rechts-)Materie liegen, verkannt, dass das Bundesverfassungsgericht einen weiteren folgenschweren Fehler in seiner Entscheidung gemacht hat, weil es sich mit der abweichenden Rechtsauffassung des EGMR nicht auseinandersetzt. Denn in Pisica vs. Moldawien Application Nummer 23641/17 wird Schadenskompensation bei mangelnder Zusammenführung durch den Staat bei Parental Alienation (aaO Rn. 34, 41) ausgesprochen und von weiten Teilen der Literatur damit eine Anerkennung des PAS durch den EGMR gesehen, weil dieser von einem „alienated child“ spricht (Sünderhauf und Widrig).
Sind jetzt alle EGMR Richter „Väterrechtler“, wenn Sie Schadensersatz bei PAS zusprechen – aber an eine Mutter?
Michael Langhans
Sind jetzt die EGMR Richter allesamt „Väterrechtler“, insbesondere weil dort der Schadensersatz an die Mutter ging? Wer hat jetzt mehr Recht, die Richter Robert Spano,Marko Bošnjak, Julia Laffranque, Valeriu Griţco, Ivana Jelić, Arnfinn Bårdsen und Saadet Yüksel oder die Richter Ott, Radtke und Wolff?
Keine Seite, würde ich anmerken. Denn m.E. wurde in Deutschland einfach übersehen, die Unterschiede „PAS“ (das zu Recht abgelehnt wird) und „Entfremdung“ herauszuarbeiten, die die vom BVerfG zitierten Autoren ja immerhin unter dem Begriff „Kontaktprobleme“ anerkennen. Damit liegt bereits kein Widerspruch vor, wenn doch wird das Verhältnis der Menschenrechte zu Grundrechten neu zu definieren sein, wobei das BVerfG die Verbindlichkeit von Rechtsprechung des EGMR ja eigentlich anerkennt. Denn die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Urteil und den Vorgaben, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, bleibt jedoch hinter den (deutschen, Anm. von mir) verfassungsrechtlichen Anforderungen zurück (so das BVerfG in 2 BvR 78/22, Rn. 31).
Eltern-Kind-Entfremdung und Bindungsintoleranz
Ein weiteres Beispiel für mangelnde Recherche ist der folgende Satz, den der Volksverpetzer (ohne Quelle 😉 ) zitiert:
Ein Schlüsselbegriff in deren Argumentation ist die „Eltern-Kind-Entfremdung“, zuweilen auch „Bindungsintoleranz“ genannt.
Eine Prüfung der Quellen erscheint unwahrscheinlich. Abschreiben oder Nacherzählen ist kein Faktencheck
Michael Langhans
Bindungsintoleranz ist dabei eben etwas anderes und auch ausreichend wissenschaftlich definiert: „Der Begriff Bindungstoleranz, besser Beziehungstoleranz, umfasst die Frage, ob die Eltern die Einsicht besitzen, dass die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil von emotionaler Bedeutung für das Kind ist und dass es daher für das Kindeswohl wesentlich ist, dem Kind und den Eltern die Zeit zuzugestehen, die benötigt wird, ihren Beziehung entwickeln zu können. Sie betrifft auch die Wertschätzung der Erziehungsleistung des anderen Elternteils.“ (Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, 7. Auflage 2020, Rn. 1188, 1189).
Er kann ein Indiz für fehlende Erziehungseignung sein.
Parental Alienation Syndrom nach Gardener ist definiert wie folgt: „a disturbance in which children are obsessed with deprecation and criticism of a parent — denigration that is unjustified and/or exaggerated” because of one parent’s conscious, subconscious, or unconscious behaviors that affect the child’s perception.“ (Quelle)
Eltern-Kind-Entfremdung wird hingegen definiert wie folgt:
„Kontaktverlust und die emotionale Entfremdung von Kindern und Jugendlichen gegenüber einem ihrer beiden Eltern im Kontext elterlicher Trennungen“ (zitiert nach Rücker et al, ZKJ, aber auch so zitiert in Zimmermann et al)
„Der Begriff Eltern-Kind-Entfremdung (engl. Parental Alienation) beschreibt ein Phänomen, bei dem ein Kind – meistens eines, dessen Eltern sich in einem konfliktbeladenen Trennungs- oder Scheidungsprozess befinden – sich stark mit einem Elternteil verbündet und eine Beziehung zum anderen Elternteil ohne legitime Begründung ablehnt.“ (Lorandos, Bernet und Sauber: Parental Alienation: The Handbook for Mental Health and Legal Professionals, 2013)
Keine Gleichsetzung Eltern-Kind-Entfremdung und Parental Alienation
Dabei stört mich grundsätzlich bereits das gleichsetzen der Begriffe PAS und Eltern-Kind-Entfremdung, weil PAS als psychiatrische Diagnose („Syndrom“) konzipiert war und auch hieran gescheitert ist, vor allem aber auch weil dieser Begriff bewusste oder unbewusste Verhaltensweisen von Elternteilen mit umfasst. Davon ist in den Definitionen von Rücker aber nicht die Rede: Hier geht es um die Entfremdung als Faktum, den fehlenden Kontakt und die körperlich-psychische Auswirkungen auf das Kind. Rücker et al sind in ihrem Aufsatz insoweit nicht konsequent, der Begriff Entfremdung und Eltern-Kind-Entfremdung wird vergleichbar, wenn nicht gar synonym genutzt, was ich anders handhabe, um mich mehr von der Übersetzung des Begriffes „PAS“ zu distanzieren. Und: wie oben dargestellt wird auch von Zimmermann et al das Problem anerkannt, wenn auch anders benannt. Dass dieser Artikel von Zimmermann et al zudem darauf hinweist, dass Rücker et al explicit Gründe für Kontaktabbruch bei Gewalt nicht in Frage stellen, was die Süd-Autoren erneut harsch kritisieren, führt eigentlich die ganze Diskussion ad absurdum.
Der Volksverpetzer recherchiert schlechter als der Stern
Ich bin mir sicher, hätte man den Aufsatz von Rücker und anderen gelesen, der zum Verständnis des „dagegen“ Artikels von Zimmermann et al notwendig ist, hätte man zumindest anders argumentiert. Dass der Volksverpetzer dann letztlich falsch abschreibt und unrichtig zitiert, ist für Faktenchecker dann doch ein eher großes Problem. Sie machen nämlich genau das, was sie dem Stern vorhalten: Nur einseitig Belege gegen Dr. Stefan Rücker zu sammeln, nicht aber Argumente für dessen Thesen, die sich aus dem wissenschaftlichen Diskus von Kindler et al aber ergeben.
In Anlehnung an das AG Schwäbisch-Hall sollte man daher Meinungen von Rücker et al und Zimmermann et al immer unter dem Deckmantel des §26 FamFG lesen: „Dabei verpflichtet der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 26 FamFG die Familiengerichte in Kindschaftsverfahren im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen“ (Beschluss vom 25.10.2021 – 2 F 150/20).
Hätten das die Volksverpetzer befolgt, wären ihren freilich die Argumente bzw. Fakten ausgegangen…
Sturm im Wasserglas gegen den Versuch, einseitige Presseöffentlichkeit zu schaffen
Die Kritik des Volksverpetzers ist daher ein Sturm im Wasserglas. Ich halte grundsätzlich nichts von Meinungen, die Kriterien an andere nicht für sich selbst einhalten. Wer Qualität und Fakten fordert, muss liefern. Wenn er vom Thema nichts versteht, muss er die Finger davon lassen.
Man kann den Aufsatz von Rücker und anderen kritisieren. Man kann auch die Medienpräsenz von Rücker kritisieren.
Aber dann muss man das neutral und ausgewogen tun. Kommt Kritik an der Medienpräsenz von Mundlos, deren Selbstbezeichnung als Feministin den Faktencheck nicht überlebt hat, auf? Nein.
Setzt man sich mit Zimmermann, Fichtner, Kindler, Walper, Lux persönlich auseinander? Nein.
Wird Kritik an Mütterrechtlern geäußert? Nein.
Offenbar trifft also Stefan Rücker einen Nerv. Und das ist gut so, wie jede Diskussion gut ist.
Wird vom Volksverpetzer darauf hingewiesen, dass der medial ausgetragene Streit Väterrechtler gegen Mütterrechtler den Kinder schadet? Nein.
Die Dynamiken im Hintergrund treten in Vergessenheit
Das ist Schade. Denn die Dynamiken hinter den Problemen geraten dadurch in den Hintergrund. Gerade das BVerfG versäumt hier die Auseinandersetzung mit Entfremdung unabhängig von PAS, vor allem aber die Auseinandersetzung damit, dass selbst Zimmermann, Fichtner, Kindler, Walper und Lux einen „Literaturstand“ und einen „Diskussionsstand“ zum Thema erwähnen – und damit eben die wissenschaftliche Evidenz der Problematik anerkennen. Zusammengefasst wird dies mit der Kritik von Zimmermann et al wie folgt:
„Der Artikel verlangt aus unserer Sicht Ergänzungen und Korrekturen, um Verkürzungen und Verzerrungen in den Fachdiskursen entgegenzuwirken. Schwierige Phänomene, bei denen die Familiengerichtsbarkeit um bestmögliche Entscheidungen ringt, die wissenschaftliche Bearbeitung aber nur allmählich vorankommt, verführen leicht zu unangemessen vereinfachenden Verständnissen und vorschnellen Handlungsansätzen.“
Genau deshalb wird von den Autoren auch die Diskussion hin zu Begrifflichkeiten wie „Kontaktverweigerung, Kontaktprobleme, Eltern-Kind-Kontaktprobleme, Eltern-Kind-Kontaktabbruch“ geführt, was im wissenschaftlichen Diskus ja Sinn machen mag, die rechtlichen Probleme aber ebensowenig angeht wie weitere Differenzierungen nach Gatekeeping und Gateopening, die bei elterlichen Verhaltensweisen im Vordergrund stehen oder eben wahrgenommene Koalitionsdruck, wenn Kinder das tun, was sie denken dass die Eltern von Ihnen erwarten. All diese Diskussion löst aber – anders als der Ansatz von Rücker – keine Probleme. Damit setzen sich aber weder der Artikel des Volksverpetzers noch das BVerfG auseinander. Letzterem kann man zugute halten, dass dieses den Fall an das OLG zurückgab und damit die streitentscheidenden Fragen also ungeklärt in rechtlicher Hinsicht sind.
Die Sicht der Kinder aus der Sicht der Arbeit von Stefan Rücker
Mein Problem sind die doch sehr deutlich eigentlich immer einseitigen Presseberichte, die eben immer nur eine Seite oder das Schwarz-Weiß betrachten, oftmals eben aus Sicht eines Elternteils, nie aber die Grauzonen und vor allem niemals aus Kindersicht.
Und genau dort, aus Sicht der Wehrlosen, liefert Dr. Stefan Rücker meiner Meinung nach mehr Erkenntnisse für den rechtlichen Alltag als ein Heinz Kindler im Gros seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Die Sicht der Kinder wird nämlich oftmals nicht nur durch Verfahrensbeistände nicht ausreichend berücksichtigt, sondern eben auch nicht immer durch Gutachter.
Hier brauchen wir engagierte Stimmen, die dann sicher mit der Kritik derjenigen, die den Fokus nur auf ihre eigenen Interess:Innen legen, umgehen können. Stefan Rücker liefert hier einen wichtigen Beitrag, was die Kritik der weiblichen Seiten nur bestätigt. Überhaupt klingt die ganze Kritik nach „getroffene Hunde bellen“; denn die Arbeit von Rücker et al beschäftigt sich ja weniger mit der Motivlage hinter einer Entfremdung sondern mit der Lösung letzterer.
Im rechtlichen Endergebnis, und das können viele Väter und Mütter leidvoll bestätigen, leiden alle Parteien unter der unklaren Faktenlage bei gleichem Faktum, dass es Entfremdungen/Kontaktprobleme gibt. Nur: Darüber will keiner schreiben.
Update zum 05.06.2024: Report Mainz
Auch Report Mainz scheint jetzt auf den Entfremdungs-Propaganda-Zug aufgesprungen zu sein und macht die selben begrifflichen Ungenauigkeiten zum Gegenstand gebührenfinanzierter (Nicht)Recherche.
Bereits der Anfang offenbart einen erstaunlichen Gleichklang zum Artikel des Volksverpetzers: „Was ist mit Bindungsintoleranz oder mit Entfremdung gemeint? Das Konzept hat er geprägt: Der US Psychiater Richard A. Gardener.“ (Minute 1:50 f.)
Wie bereits oben dargelegt sind die Begrifflichkeiten zu Unrecht ident gesetzt. Bindungsintoleranz hat mit PAS genauso wenig zu tun wie PAS mit Entfremdung zwingend ident ist. Die Ausführungen von Dr. Rücker im Videobeitrag unterstütze ich hier, wobei ich wenig davon halte nachzugeben und neue Begriffe zu prägen. Dazu hatte ich oben ja schon Stellung genommen, und genau hier macht der Fernsehbeitrag den größten Fehler: Man fragt Frau Walper gar nicht zu den Begriffsunterschieden bzw. warum sie trotzdem einen (oder im Aufsatz viele) ähnliche, gleiche, andere Begriffe verwendet.
Kampagnenjournalismus?
Für die beiden Artikel passt doch wunderbar ein Konzept: Kampagnenjournalismus (alleine der Begriff soll ja ein schlimmer Vorwurf sein, wie die Welt hier meint). Zu Recht weisen die Rechtsanwälte Geßner Legal darauf hin, dass solcher Kampagnenjournalismus Existenzen auslöschen kann – und ARD und Volksverpetzer zielen ja auch deutlich auf Dr. Rücker als Zielrichtung ihres Feldzuges ab. Warum eigentlich? Er schreibt und sagt nur, was viele andere sagen und schreiben, auch wenn er sicherlich medialer präsent ist als andere (und, wie der Fernsehbeitrag auch beweist, besser mit falscher Kritik umgehen kann als die ihn interviewende Journalistin, die ihren Fehler einfach abstreitet: Sie hat eben nach wissenschaftlichem Titel gefragt…, Minute 6:40).
Dabei habe ich eine Überraschung für all die Männer- und Frauenrechtler-Kreuzzügler da draussen: Entfremdung oder wie auch immer es heißen mag, wenn ein Kind plötzlich äußert, dass es keinen Kontakt zum Elternteil möchte, obwohl die tatsächlichen Begegnungen, Bindungen, gemeinsamen Momente beweisbar (!) das Gegenteil belegen, auch durch Fachleute beobachtet, dass sie Kontakt nur zu Bedingungen zulassen wollen, ohne dass es hierfür Erklärungen gibt, dass insbesondere Kinder in einem gewissen Alter nicht äußern wollen, warum sie keinen Kontakt mehr wollen, all das ist ein Phänomen, das Väter, Mütter, Großeltern und Geschwister betrifft, tagtäglich in Deutschland. Walper und andere haben dafür sogar die Hauptursachen benannt:
„Die drei wichtigsten Einflussfaktoren auf eine Ablehnung des Vaters waren (in der Reihenfolge der Stärke der Einflusse) fehlende Wärme in der Beziehung des Kindes zum Vater, Trennungsängste der Mutter und ein mütterliches Untergraben der Beziehung zum Vater.“
Johnston 2003 in Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler, Verdorbener Wein in neuen Schläuchen, ZKJ 2/2023
Warum wird das in den Kampagnenbeiträgen nicht benannt? Warum wird erneut nicht richtig zitiert? Fragen über Fragen.
Auch Frauen sind von Kontaktproblemen betroffen
Andrea und Deborah, zwei Freundinnen von mir, können am eigenen Leib, vor allem aber am Leib ihrer Kinder erzählen, dass Entfremdungen/ Kontaktprobleme/ Kontaktverlust und die emotionale Entfremdung von Kindern und Jugendlichen gegenüber einem ihrer beiden Eltern im Kontext elterlicher Trennungen/ Kontaktverweigerung/ Kontaktprobleme/ Eltern-Kind-Kontaktprobleme/ Eltern-Kind-Kontaktabbruch/ Gatekeeping usw. stattfinden, bis hin zur Umgangsverweigerung. Das zu hinterfragen wäre Aufgabe eines nicht kampagnenorientierten Journalismus, der sich nicht von vorausgewählten Informationen („gibt es noch mehr Mütter, denen Entfremdung und Bindungsintoleranz in Umgangsrechtsverfahren unterstellt wird“, Min. 3:08) leiten lässt, die bereits das statistische Dilemma in sich tragen. Erstens sind Aufenthaltsfragen Sorgerechtsfragen und könnten daher gar nicht zu einem „Sorgerechtsentzug“ (vgl. 1:32 Min) führen, zweitens kann man nicht einfach so 11% der Daten bzw. Verfahren ausklammern (89% der Trennungskinder leben bei der Mutter, sagt die Statistik). Ob man eine aussagekräftige Stichprobe an Verfahren hinterfragt hat, bleibt offen, halte ich aber für unwahrscheinlich, wenn man nur Mütter als Opfer insziniert. Dafür spricht auch, dass man wirklich genau hinlesen muss: „Das belegen Gerichtsunterlagen, die uns vorliegen“ ist eben nicht dasselbe wie „ich habe die gesamte Gerichtsakte geprüft“. Ich unterstelle mal eine „Vorauswahl“ der „relevanten“ Unterlagen durch die Betroffenen – was nicht gerade für eine Objektivität spricht.
Alle „Mütterrechtler“ und „Väterrechtler“, die solchen Kampagnenjournalismus unterstützen, gleich zu welchem Thema, schaden damit nicht nur ihren (auch betroffenen) Geschlechtsgenossinnen, vorallem aber ihren Kindern. Und daher brauchen sie sich nicht wundern, wenn sie sorgerechtliche Einschränkungen auf sich nehmen müssen (selbst wenn diese ungerechtfertigt sein sollten).
Missstände im Sorge- und Kindschaftsrecht kann und muss man anprangern. Dies kann aber niemals mit illegitimen Mitteln wie Kampagnenjournalismus, Geschlechterdiskriminierung und statistisch unzureichenden Mitteln erfolgen.
Update 08.06.2024: Auch Tagesspiegel und Salgo reihen sich in die Kampagne ein
Jetzt hat es also auch den Tagesspiegel erwischt und Salgo, wenn auch „nur“ in Interviewform. Das hat den Vorteil, dass man sich mit lästigen anderen Ansichten gar nicht erst auseinandersetzen muss. Daher darf Salgo dann auch sagen, was er denkt. Und das ist recht aufschlussreich:
„Das Bundesverfassungsgericht hat aktuell beschlossen, dass „Eltern-Kind-Entfremdung“ und „PAS“ als Begründung nicht ausreichen, um ein Kind aus seinem gewohnten Umfeld herauszureißen. „
Die Aussage verkürzt fahrlässig falsch das Bundesverfassungsgericht, das zu Recht darauf hinwies, dass vorallem die Frage des Kindeswohles in der Entscheidung des OLG Köln nicht ausreichend geprüft und berücksichtigt worden war. Ausdrücklich weist aber das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass ein Fehlverhalten eines Elternteils zu berücksichtigen wäre (BVerfG 1 BvR 1076/23 Rn. 33).
Tatsächlich führt das BVerfG folgendes aus:
„Mit der vom Oberlandesgericht herangezogenen Eltern-Kind-Entfremdung wird auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (kurz PAS) zurückgegriffen. Das genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht. Soweit ersichtlich besteht nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils oder für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils (vgl. umfassend Zimmermann/Fichtner/Walper/Lux/Kindler, in: ZKJ 2023, S. 43 ff., und dies. in: ZKJ 2023, S. 83 ff.).“
BVerfG 1 BvR 1076/23 Rn. 34
Es mag ein kleiner Unterschied sein, aber meines Erachtens ist vorallem der Rückgriff auf PAS (zu Recht) abschlägig beschieden, nicht aber zwingend jede Entfremdung – weshalb dann auch das Verfahren an das OLG zurückgegeben wurde. Wie bereits oben dargelegt hat sich dem Aufsatz von Rücker et al weder das BVerfG auseinandergesetzt noch nunmehr also Salgo, was für einen Diskurs eben nicht ausreicht.
Streit über Begriffe statt über die Frage, was Kinder brauchen?
Aber genau das ist Salgos Problem: Aussagen, Begriffe, nicht Probleme stehen im Focus seiner (politischen?) Agenda:
„Nochmals: Es muss hier im Interesse von Familien und Kindern vor Verwendung dieser Begriffe in der behördlichen wie in der familiengerichtlichen Praxis, vor deren Deutungs- und Handlungsempfehlungen deutlich gewarnt.“
Meiner Auffassung nach – und das ist eben auch die Aussage von Zimmermann et al aaO – muss eben geklärt werden, woher eine Kontaktverweigerung kommt, was die Ursachen sind, wie diese Aufzulösen sind. Nichts anderes sagen freilich auch Rücker et al aaO. Letztere präferieren nur eben einen Ansatz der Umgangsdurchsetzung vor einer ewigen Diskussion um wissenschaftliche Begriffe und präferieren damit das Wohl des Kindes über die Kritik an Worten. Ich kann Juristen nicht leiden, die nur Begrifflichkeiten nutzen, aber nicht in der Lage sind die dahinter liegenden Probleme zu erkennen oder zu bearbeiten. Freilich ist es leichter, in Phrasen als in Problemlösungen zu sprechen. Letztere wird eben unzureichend von Zimmermann et al angeboten und ist damit nicht wirklich hilfreich im Alltag. Denn: Wir brauchen nicht mehr Gutachten, wir brauchen Problemlösungen.
Dass es für ein Kind egal ist, was seine Selbstwirksamkeit angeht, was seine Entwicklung angeht, was seine Zugehörigkeit zu Familienstämmen angeht, ob es unter „Entfremdung“, „Kontaktproblemen“, „Kontaktverweigerung“ usw. leidet, sollte offenkundig sein. Wie oben dargelegt: Raider heißt jetzt Twix, auch im Tagesspiegel.
Wechselmodell verhindern über Kritik an der Entfremdung
Immerhin ist Salgo ehrlich, wenn er deutlich macht, dass es ihm eigentlich nicht um „Kontaktprobleme“ oder „Kindeswohl“ geht. Ihm geht es vorallem darum, ein Wechselmodell als Leitmodell zu verhindern:
„Der Minister hatte zunächst angekündigt, hier das Wechselmodell, also die hälftige Aufteilung der Kinder zwischen Eltern, als gesetzliches Leitbild einführen zu wollen. Das halte ich im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion für absolut abwegig. Das Wechselmodell kann kein Leitmodell im deutschen Kindschaftsrecht werden, das flächendeckend gegen den Willen von Betroffenen angeordnet wird.“
Die Meinung kann man vertreten; ich selbst bin politisch auch gegen ein Leitmodell, das nicht die beiden Eltern (!) bestimmt haben. Weniger Staat wäre immer besser. Aber dass das nichts mit dem Entfremdungsproblem zu tun hat, sollte offenkundig sein. Und damit schließt sich der Kreis um den Sturm im Wasserglas: Es geht nur um Politik, nicht um Kinder – also alles wie bisher.
Pressemitteilung des Vereins Erzengel
Die Pressemitteilung unseres Vereins Erzengel finden Sie hier.
Über eine Sorgerechtsverfügung hatte ich bereits berichtet. Ein anderes wichtiges Instrument ist dabei die „normale“ Vollmacht über Angelegenheiten der elterlichen Sorge. Mit dieser kann ein Elternteil Probleme in der Kommunikation umgehen und insbesondere Sorgerechtsübertragungen auf den anderen Elternteil verhindern. Denn eine Vollmacht über Angelegenheiten der elterlichen Sorge führt zur Unzulässigkeit einer Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil.
Was ist eine Vollmacht über Angelegenheiten der elterlichen Sorge
Sie ist eine normale Vollmacht, in der eine Person (Vollmachtgeber) eine andere (den Vollmachtnehmer) bevollmächtigt, etwas zu tun. Wir kennen das, wenn wir Pakete abholen wollen oder einen Auftrag bei einer Behörde für jemanden durchführen. Das besondere an der Vollmacht im Sorgerecht ist dabei nur der Umfang einer solchen Vollmacht: Diese bezieht sich ausschließlich auf sorgerechtliche Angelegenheiten.
Welche Vorteile hat eine solche Vollmacht im Sorgerecht?
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Übertragung des alleinigen Sorgerechts gemäß § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB entbehrlich, wenn sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur alleinigen Wahrnehmung der Kindesbelange gibt. Dies folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, demzufolge der Eingriff in die elterliche Sorge eines Elternteils nicht erforderlich ist, wenn die Handlungsbefugnisse des anderen Elternteils bereits durch die Vollmacht erweitert sind und dieser dadurch in die Lage versetzt wird, in den maßgeblichen Kindesbelangen allein tätig zu werden. Infolge der ihm erteilten Vollmacht ist der andere Elternteil dann auch ohne Abstimmung mit dem vollmachtsgebenden Elternteil ausreichend handlungsfähig. Die Vollmacht ermöglicht, dass Konflikte in der Kommunikation und Kooperation mit dem anderen Elternteil weitgehend vermieden werden können (BGH, Beschl. v. 29.04.2020, XI 1112/19). Dies gilt selbst wenn der Kindeswille dem entgegenstehen würde (OLG München, 26 UF 529/23 e, wenn eine alleinige Handlungsbefugnis ausreichen würde.
Der Vorteil ist also schlicht, dass man es verhindert, dass einem Sorgerechtsanteile „entzogen“ werden (rechtlich betrachtet sieht man hierin keine Entziehung, wenn gem. §1671 BGB die Rechte auf den anderen Elternteil übertragen werden. Emotional und inhaltlich ist es aber eine Entziehung). Man kann damit also zum Arzt, in die Schule, zum Jugendamt gehen und sich informieren – was eine wesentliche Grundlage für künftige Maßnahmen ist. Wer keine Infos bekommt, bekommt auch selten ein Kind (zurück).
Welche Formvorschriften gibt es für eine solche Vollmacht
Grundsätzlich sind solche Vollmachten formfrei, aber zum Nachweis, insbesondere damit ein Sorgerechtsentzug verhindert wird, empfiehlt sich die Schriftform. Die Vollmacht kann also auch im Termin zu Protokoll des Gerichts erklärt werden.
Wann ist eine Vollmacht sinnvoll
Eine Vollmacht ist immer sinnvoll, wenn man weite Distanzen hat zwischen dem Elternteil, der die Vollmacht erteilen soll, und dem Kind. Damit werden Diskussionen, was Alltagssorge ist und was nicht, vermieden. Weniger Streit führt aber zu besserem Co-Parenting.
Formular
Ein entsprechendes Formular über eine Vollmacht über Angelegenheiten der elterlichen Sorge stellt der Verein Erzengel für Euch kostenfrei zur Verfügung.
Das OLG Nürnberg hat im Beschluss 7 WF 622/23 festgehalten, dass ein Sachverständiger auch vor Gutachtensfertigstellung wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann. Voraussetzung hierzu ist ein zumindest grob fahrlässiges falsches Verhalten. Im entschiedenen Fall hatte der/die Sachverständige in einem anderen Verfahren mündlich Testergebnisse falsch dargestellt zum Nachteil einer Partei. Daher war die Besorgnis der Befangenheit berechtigt und der Gutachter abzulehnen.
Befangenheit des Sachverständigen vor Gutachtensfertigstellung
Die bisherige Rechtsprechung hatte weitgehend Gutachter nicht abgelehnt, solange kein Gutachten vorliegt. In der Tat bestehen viele Oberlandesgerichte sogar darauf, dass Fehler in der Begutachtung mit dem Rechtsmittel, also der Beschwerde, anzufechten seien und eine isolierte Anfechtbarkeit via Rüge der Befangenheit nicht möglich seien. Genau so hatte das Amtsgericht argumentiert:
„Das Amtsgericht wies den Antrag der Antragstellerin, den Sachverständigen Dr. S… wegen Befangenheit abzulehnen, mit Beschluss vom 07.07.2023 zurück. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung begründe der Vorwurf fehlerhafter Gutachtenerstellung infolge mangelnder Sorgfalt, unzureichender Sachkunde oder sonstiger Unzulänglichkeiten im Allgemeinen nicht die Besorgnis der Befangenheit, weil diese Rüge lediglich die Qualität des Gutachtens und nicht die Unparteilichkeit des Sachverständigen betreffe. Eine vorsätzliche Täuschung des Gerichts durch den Sachverständigen zum Nachteil der Antragstellerin sei nicht ersichtlich.“
OLG Nürnberg 7 WF 622/23
Da hier aber nicht sauber gearbeitet wurde, ergibt sich hier fehlende Unvoreingenommenheit:
„Das Beschwerdegericht kann nachvollziehen, dass sich für die Antragstellerin der Schluss ergibt, dass ein Sachverständiger, der im Hinblick auf ihre Diagnose bereits in einem mündlichen Gutachten nachgewiesenermaßen zu ihrem Nachteil unsauber gearbeitet hat, ihr nicht mehr ergebnisoffen gegenübertritt. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige auch in seiner mündlichen Gutachtensergänzung vom 25.11.2022 deutlich gemacht hat, dass er an seiner Einschätzung der Antragstellerin nichts geändert hat. Das Verhalten des Sachverständigen im Parallelverfahren steht in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren, in dem das schriftliche Gutachten des Sachverständigen lange überfällig ist, und ist daher geeignet, das Misstrauen der Antragstellerin im hiesigen Verfahren zu begründen.“
OLG Nürnberg 7 WF 622/23
Insoweit ist diese neue Rechtsprechung ein Meilenstein, der allerdings auch dringend notwendig ist. Wie sich diese Sichtweise in Zukunft entwickeln wird, bleibt aber abzuwarten. Es wird dabei bleiben, dass man viele Argumente sammeln und die Auswirkungen auf die fehlende Ergebnisoffenheit relevant und im Mittelpunkt der Argumentation stehen muss.
Befangenheit des Sachverständigen und Fehler im Verfahren
Folgt man der Argumentation des OLG Nürnberg, dann werden viele Sachverständige auch dann abzulehnen sein, wenn sie im selben Verfahren Fehler machen. Die dargestellten Argumente des OLG sind nämlich falsches Vorgehen zum Nachteil einer Partei. In der Tat ist der zweite Aspekt der schwierige, denn vor Gutachtenserstellung wird man kaum „zum Nachteil einer Partei“ begründen können. Sieht man aber die Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht als Schutz der betroffenen Familien, dann wäre jedes Abweichen, z.B. auch die fehlende Benennung der eigenen Qualifikation, ein solcher Nachteil einer Partei.
Es bleibt also spannend, wie und ob sich die Rechtsprechung entwickeln wird. Befangenheit eines Sachverständigen wird also ein Thema bleiben, egal ob vor Gutachtenfertigstellung oder danach.