Mündliche Verhandlung in der Beschwerde sind grundsätzlich verpflichtend. Nur in Ausnahmefällen kann man davon absehen. Oftmals wird aber formelhaft davon abgesehen, weil „keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“ Das ist im Gesetz so vorgesehen, allerdings sollte man hier immer besonderes Augenmerk auf diese Argumentation legen, weil diese mit der EMRK in Widerspruch stehen könnte. Zudem bedeutet diese Rechtslage auch, dass es Eure Aufgabe ist, sicherzustellen, dass ihr nach der erstinstanzlichen Entscheidung neue Aspekte anführt. So wird dem Beschwerdegericht die Chance genommen, auf die mündliche Verhandlung zu verzichten.
Mündliche Verhandlung in der Beschwerde gem. §68 FamFG
„(3) Das Beschwerdeverfahren bestimmt sich im Übrigen nach den Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug. Das Beschwerdegericht kann von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.“
Eigentlich spricht Satz 2 deutliche Worte, die einfach verständlich sind. Mündliche Verhandlung in der Beschwerde ist also die Regel, das Absehen die Ausnahme. Leider wird genau dieser Satz als pauschaler Baustein oft genutzt, um Elternrechte auszuschalten. Wenn es neue Fakten nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gab oder in der Kindesanhörung Fragen offen geblieben sind, auch fachpsychologische Fragen ungeklärt sind, dann muss eine mündliche Verhandlung stattfinden.
Kommentarliteratur zur mündlichen Verhandlung
Zitieren wir die Kommentarliteratur hierzu:
Es kann von einer Beweisaufnahme oder einzelnen Verfahrenshandlungen abgesehen werden,
„wenn dies bereits in der ersten Instanz ordnungsgemäß durchgeführt wurde und von einer erneuten Vornahme keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind. So kann von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen werden, wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtlichen Gesichtspunkte ergeben…“
zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 39 zu §68 FamFG.
Ordnungsgemäß heißt auch vollständige Beweisaufnahme, was sich aus dem Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 GG ergibt.
Anhörungen sind danach vorzunehmen, wenn Bedenken an die Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen bestehen.
zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.
Wie bei einer Gehörsrüge muss man also schauen, ob das Gericht verschiedene Aspekte übersehen hat, und hierzu in der Beschwerde vortragen.
Dies gilt insbesondere, wenn wesentliche neue Tatsachen zu erörtern sind, die in der ersten Instanz noch nicht zur Sprache gekommen sind,
zitiert nach Roßmann in Schulte-Bunert, Weinreich, FamFG, 7. Auflage 2023, Rn. 47 zu §68 FamFG.
Dieses Argument steuert ihr über einer Beschwerdevorbringen: Einfach vortragen, was an neuen Erkenntnissen bestehen.
„Wenn sich seit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung neue Gesichtspunkte ergeben haben, muss der Beteiligte bzw. Betroffene erneut angehört werden (BGH BeckRS 2010, 17681 Rn. 9 für das Abschiebungshaftverfahren; BGH NJW 2011, 2365 Rn. 13 für das Unterbringungsverfahren).“
zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44b
Es besteht also eine Pflicht, Beteiligte zu neuen Erkenntnissen anzuhören. Und schriftlich rechtliches Gehör gewähren reicht insoweit nicht aus!
Dann jedenfalls eignet sich der Sachverhalt nicht mehr für eine Entscheidung nach Aktenlage:
„Der Sachverhalt muss sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignen, woran es fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur aufgrund einer durch unmittelbare Anhörung des Beteiligten gewonnenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können (BGH FGPrax 2010, 290 Rn. 9).“
zitiert nach BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 44a
Daher muss eine mündliche Verhandlung stattfinden. „Solche Umstände“ sind daher auch Wertungen der Eltern oder Meinungen des Kindes.
„Erforderlich ist die erneute Anhörung, wenn die Entscheidung zum Nachteil des Betroffenen geändert werden soll (OLG Frankfurt a. M. BtPrax 1997, 73), wenn wesentliche neue Tatsachen vorgetragen werden (OLG Celle NdsRpfl 1995, 353); auch wenn der Betroffene beim erstinstanzlichen Anhörungstermin die Kommunikation mit dem Richter verweigert (BGH NJW 2016, 2650: Aufhebung einer Betreuung), wenn im ersten Rechtszug bei der Anhörung zwingende Verfahrensvorschriften verletzt wurden (BGH NJW 2011, 2365: Betroffener im Unterbringungsverfahren; NJW 2012, 2584).“
zitiert nach Bumiller/Harders/Schwamb/Bumiller FamFG § 68 Rn. 4-7
Die Ermittlungen müssen „erschöpfend“ sein.
„Gemäß Abs. 3 S. 2 kann das Beschwerdegericht in allen Verfahren nach dem FamFG – auch in Ehe- und Familienstreitsachen – nach pflichtgemäßem Ermessen von der Wiederholung erstinstanzlicher Verfahrenshandlungen absehen, soweit der Sachverhalt in erster Instanz erschöpfend und verfahrensgerecht ausermittelt worden ist und eine erneute Vornahme nicht zu neuen Erkenntnissen führen würde. Dies betrifft auch die mündliche Verhandlung.“
zitiert nach MüKoFamFG/A. Fischer FamFG § 68 Rn. 6-8
Gemeint sind also gesicherte Ermittlungsgrundlagen, wozu das BVerfG bereits ausführlich und verbindlich Stellung genommen hat und worüber ich hier berichtet habe. Das gilt auch für einstweilige Anordnungen.
Bundestagsdrucksachen zu §68 FamFG und zur mündlichen Verhandlung in der Beschwerde
Der Bundestag hat hierzu ausgeführt unter Berücksichtigung der verbindlichen Rechtsprechung des EGMR und der Verbindlichkeit der EMRK (vgl. BeckOK FamFG/Obermann FamFG § 68 Rn. 42-45):
„Diese Neuregelungen sind mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Die Menschenrechtskonvention enthält zwar den Grundsatz der mündlichen Verhandlung für alle streitigen Zivilverfahren, worunter nach der Rechtsprechung des EGMR auch Ehesachen, Kindschaftssachen und Unterbringungssachen fallen (vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2006, Rn. 8 zu Artikel 6). Es ist aber nach der Rechtsprechung anerkannt, dass der Staat eine Fallgruppe hiervon zum Schutz der Moral, der öffentlichen Ordnung, zum Jugendschutz oder zum Schutz des Privatlebens ausnehmen kann (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 63). Für Rechtsmittelinstanzen gilt auch nach der Rechtsprechung des Euro- päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass von der mündlichen Verhandlung abgesehen werden kann, wenn in der ersten Instanz eine solche stattgefunden hat und es nur um die Zulassung des Rechtsmittels geht oder nur eine rechtliche Überprüfung möglich ist. Eine zweite mündliche Verhandlung ist nach der Rechtsprechung des EGMR auch bei Entscheidungen über Tatsachenentscheidungen entbehrlich, wenn ohne eigene Tatsachenermittlungen aufgrund der Aktenlage entschieden werden kann, nicht aber wenn der Fall schwierig ist und die tatsächlichen Fragen nicht einfach sind und erhebliche Bedeutung haben (Meyer-Ladewig, a. a. O. Rn. 66). Bei Absatz 3 Satz 2 handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Das Gericht hat die Vorschrift konform mit der EMRK auszulegen und bei der Ausübung des Ermessens auch die Rechtsprechung des EGMR hierzu zu beachten.“
zitiert nach BT-Drs. 16/6308, 207, 208
Das Ermessen des Gerichts muss also richtig gebrauchen. Im Verwaltungsrecht sind als Fehler anerkannt Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung, und die Verhältnismäßigkeit. Bausteine werden immer Ermessensnichtgebrauch sein.
Die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung in FamFG Sachen verletzt daher das faire Verfahren nach Art. 6 EMRK, wenn entweder neue Tatsachen nach Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sind, auf die es ankommt, oder wenn in erster Instanz nicht bereits alle Aspekte ausreichend gewürdigt sind, was einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör darstellt. Hierzu habe ich in meinem Artikel zur Anhörungsrüge auch vorgetragen.