Die plötzliche Entfernung eines Kindes durch einen Elternteil ist ein Albtraum für den anderen. Der Begriff der Kindesentziehung weckt starke Emotionen und birgt komplexe rechtliche Fragen. Auf familienrecht.activinews.tv möchten wir Ihnen als Experten im Familienrecht Klarheit verschaffen. Dieser Beitrag beleuchtet die Voraussetzungen der Kindesentziehung nach deutschem und europäischem Recht, geht darauf ein, wann keine Kindesentziehung vorliegt, und gibt Ihnen konkrete Handlungsempfehlungen.
Was genau versteht man unter Kindesentziehung?
Die Kindesentziehung ist im deutschen Strafgesetzbuch in § 235 StGB geregelt. Danach macht sich strafbar, wer einem Elternteil, der das Personensorgerecht hat, oder wer einem Vormund das Kind widerrechtlich entzieht oder vorenthält.
Die wichtigsten Voraussetzungen für eine Kindesentziehung nach § 235 StGB sind:
- Bestehendes Personensorgerecht des anderen Elternteils oder eines Vormunds: Dies ist die grundlegende Voraussetzung. Ohne ein bestehendes Sorgerecht des anderen Elternteils kann keine strafrechtliche Kindesentziehung vorliegen. Das Sorgerecht kann durch Gesetz (z.B. bei verheirateten Eltern), durch gerichtliche Entscheidung oder durch eine Sorgeerklärung begründet sein.
- Widerrechtliches Entziehen oder Vorenthalten des Kindes:
- Entziehen bedeutet, dass das Kind gegen den Willen des sorgeberechtigten Elternteils oder des Vormunds aus dessen Obhut entfernt wird.
- Vorenthalten liegt vor, wenn das Kind nach einer erlaubten Ortsveränderung (z.B. nach einem Umgangswochenende) nicht an den sorgeberechtigten Elternteil zurückgegeben wird. Die Widerrechtlichkeit ergibt sich dabei aus der Verletzung des Sorgerechts des anderen Elternteils.
- Eltern können in Deutschland nur mit List, Drohung oder Gewalt entziehen, nicht aber durch bloße Untätigkeit der Rückgabe. Anderes soll bei Entziehung ins Ausland gelten, nicht aber innerhalb der EU (Freizügigkeit).
Wann liegt keine Kindesentziehung vor? Insbesondere bei nicht zurückgekehrten Kindern nach Umgang?
Eine wichtige Unterscheidung ist, wann ein Verhalten nicht als Kindesentziehung im Sinne des § 235 StGB zu werten ist. Dies ist besonders relevant in Fällen, in denen Kinder nach einem Umgang nicht zum anderen Elternteil zurückgebracht werden.
Keine Kindesentziehung liegt in folgenden Fällen vor:
- Kein gemeinsames Sorgerecht oder kein Sorgerecht des anderen Elternteils: Hat der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, das alleinige Sorgerecht, so kann die Nichtrückgabe des Kindes nach einem Umgang mit dem anderen Elternteil grundsätzlich keine Kindesentziehung im strafrechtlichen Sinne darstellen, da es an dem durch die Handlung beeinträchtigten Sorgerecht fehlt.
- Kein Herausgabetitel: Fehlt eine gerichtliche Entscheidung (Herausgabebeschluss gemäß § 1632 BGB) oder eine vereinbarte Umgangsregelung, die die Rückgabe des Kindes nach einem Umgang explizit anordnet, so ist die Nichtrückgabe allein nicht automatisch als widerrechtliches Vorenthalten im Sinne des § 235 StGB zu qualifizieren (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 18.07.2013 – III-1 UF 103/13). Das bedeutet, solange keine klare rechtliche Grundlage für die Herausgabe des Kindes existiert, kann die Nichtrückgabe nach einem Umgang strafrechtlich nicht als Kindesentziehung verfolgt werden. Allerdings können zivilrechtliche Ansprüche auf Herausgabe bestehen.
- Einverständnis des sorgeberechtigten Elternteils: Wenn der sorgeberechtigte Elternteil mit dem Aufenthalt des Kindes beim anderen Elternteil einverstanden ist, liegt keine Entziehung vor.
- Gefahr für das Kindeswohl: In extremen Fällen, in denen eine unmittelbare Gefahr für das Wohl des Kindes bei einer Rückkehr zum anderen Elternteil bestehen würde, kann die Nichtrückgabe unter Umständen gerechtfertigt sein (Notstand gemäß § 34 StGB). Dies sind jedoch Ausnahmefälle, die einer sorgfältigen Prüfung bedürfen.
- Es liegt eine Entziehung der Eltern vor, ohne dass List, Gewalt oder Drohung angewandt wurde.
Welche Rolle spielt das EU-Recht bei Kindesentziehung?
Neben dem deutschen Recht spielt das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) eine zentrale Rolle, wenn ein Kind über eine internationale Grenze verbracht wurde. Deutschland ist Vertragsstaat des HKÜ.
Die Hauptziele des HKÜ sind:
- Die sofortige Rückführung widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort widerrechtlich zurückgehaltener Kinder sicherzustellen.
- Die Ausübung des Sorge- und Umgangsrechts zu schützen.
Nach dem HKÜ ist die Verbringung oder das Zurückhalten eines Kindes widerrechtlich, wenn:
- es unter Verletzung eines Sorge- oder Umgangsrechts erfolgt ist, das einer Person, einer Einrichtung oder einer anderen Stelle nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor der Verbringung oder dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
- dieses Recht im Zeitpunkt der Verbringung oder des Zurückhaltens tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls die Verbringung oder das Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
Das HKÜ sieht ein Rückführungsverfahren vor, in dem das Gericht des Staates, in dem sich das Kind nunmehr befindet, grundsätzlich verpflichtet ist, die Rückführung des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts anzuordnen. Es gibt jedoch Ausnahmen von dieser Rückführungspflicht, beispielsweise wenn eine schwerwiegende Gefahr für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes besteht (Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ).
Innerhalb der Europäischen Union gilt zusätzlich die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-Verordnung), die das HKÜ ergänzt und in einigen Punkten modifiziert. Sie regelt die Zuständigkeit der Gerichte und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.
Konkrete Beispiele zur Anwendung des Gesetzes:
Um die Anwendung der Gesetze zu verdeutlichen, betrachten wir drei Beispiele:
Beispiel 1: Gemeinsames Sorgerecht, gerichtlicher Herausgabebeschluss liegt vor
Anna und Ben haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Lisa (6 Jahre). Nach einem gerichtlich geregelten Umgangswochenende bei Ben bringt dieser Lisa nicht wie vereinbart zu Anna zurück. Hier liegt keine Kindesentziehung gemäß § 235 StGB vor, da Anna zwar auch das Sorgerecht besitzt und die Nichtrückgabe gegen den gerichtlichen Herausgabebeschluss verstößt, was die Widerrechtlichkeit begründen würde. Aber es liegt keine List, Gewalt oder Drohung vor. Zudem könnte dies auch ein Fall des widerrechtlichen Zurückhaltens im Sinne des HKÜ sein, wenn sich Ben mit Lisa ins Nicht-EU-Ausland begeben hätte. Anna kann daher ohne den Nachweis von List, Drohung oder Gewalt keine strafrechtlichen Schritte einleiten, aber die Herausgabe von Lisa zivilrechtlich beantragen (§ 1632 BGB) oder Ordnungsgeld.
Beispiel 2: Alleiniges Sorgerecht der Mutter, keine gerichtliche Umgangsregelung
Carla hat das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn Max (8 Jahre). Vater David hat regelmäßig Umgang mit Max. Nach einem Umgangswochenende behält David Max bei sich und informiert Carla, dass er Max vorerst nicht zurückbringen wird. Da Carla das alleinige Sorgerecht hat und es keine gerichtliche Entscheidung zur Herausgabe gibt, die David zur Rückgabe verpflichtet, liegt keine strafrechtliche Kindesentziehung gemäß § 235 StGB vor. Carla kann jedoch zivilrechtlich die Herausgabe von Max gemäß § 1632 BGB beantragen und gegebenenfalls eine gerichtliche Umgangsregelung erwirken.
Beispiel 3: Internationale Verbringung bei gemeinsamem Sorgerecht
Die verheirateten Eltern Elena (deutsche Staatsangehörige, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) und Stefan (italienischer Staatsangehöriger, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Sofia (4 Jahre). Ohne Elenas Zustimmung verlässt Stefan mit Sofia Deutschland und reist nach Italien. Hier liegt eine widerrechtliche Verbringung im Sinne des HKÜ vor, da Elena ein Mit-Sorgerecht besitzt und der gewöhnliche Aufenthalt von Sofia in Deutschland war. Elena kann in Deutschland einen Antrag auf Rückführung von Sofia nach dem HKÜ stellen, der dann von den italienischen Behörden bearbeitet wird. Gleichzeitig liegt aber keine Kindesentziehung vor, da die deutschen strafrechtlichen Regeln im Widerspruch zur Freizügigkeit innerhalb der EU stehen.
Welche konkreten Schritte sollten Sie bei einer (vermuteten) Kindesentziehung unternehmen?
Wenn Sie befürchten, dass Ihr Kind widerrechtlich entzogen wurde oder nicht zurückgegeben wird, sind schnelle und überlegte Schritte entscheidend:
- Ruhe bewahren: Auch wenn die Situation emotional sehr belastend ist, versuchen Sie, einen kühlen Kopf zu bewahren.
- Dokumentation: Sammeln Sie alle relevanten Informationen und Dokumente, wie z.B. Geburtsurkunde des Kindes, Heiratsurkunde (falls vorhanden), Sorgerechtsbeschlüsse, Umgangsvereinbarungen, Kontaktdaten des anderen Elternteils.
- Kontaktaufnahme: Versuchen Sie, mit dem anderen Elternteil in Kontakt zu treten, um die Situation zu klären. Dabei können Sie auch wichtige Aspekte zu List, Drohung oder Gewalt sammeln, die eine Entziehung begründen können. Bei der Kontaktaufnahme sollten sie auf Beweisbarkeit achten (Zeuge, der Telefonat mithört, E-Mail, aber keine illegalen Tonbandaufnahmen).
- Rechtliche Beratung: Suchen Sie umgehend einen auf Familienrecht spezialisierten Rechtsanwalt auf. Dieser kann die rechtliche Situation einschätzen und die notwendigen Schritte einleiten.
- Strafanzeige: Bei einer vermuteten strafrechtlichen Kindesentziehung (§ 235 StGB) kann eine Strafanzeige bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft sinnvoll sein.
- Antrag beim Familiengericht: Beantragen Sie beim zuständigen Familiengericht gegebenenfalls die Herausgabe des Kindes (§ 1632 BGB), wenn noch kein Titel vorliegt, oder die Regelung des Sorgerechts und des Umgangs. Die Polizei kann idR auch erst dann helfen, wenn es einen Herausgabetitel gibt.
- Bei internationaler Entführung: Wenn das Kind ins Ausland verbracht wurde, informieren Sie umgehend Ihren Rechtsanwalt über den möglichen Aufenthaltsort und prüfen Sie die Möglichkeit eines Rückführungsantrags nach dem HKÜ. In Deutschland ist das Bundesamt für Justiz (BfJ) die zentrale Behörde für internationale Kindesentführungen und unterstützt sie dabei.
Fazit: Schnelles Handeln und rechtlicher Beistand sind entscheidend
Die Kindesentziehung ist ein gravierender Eingriff in das Leben eines Kindes und des zurückgelassenen Elternteils. Das deutsche und europäische Recht bieten Instrumente, um dem entgegenzuwirken. Es ist entscheidend, die Voraussetzungen der Kindesentziehung genau zu kennen und zu wissen, wann keine strafrechtliche Kindesentziehung vorliegt, insbesondere im Kontext nicht zurückgekehrter Kinder nach Umgang ohne klaren Herausgabetitel oder bei Entziehungen ohne List, Drohung und Gewalt oder innerhalb der EU. Im Falle einer (vermuteten) Kindesentziehung ist schnelles Handeln und die Hinzuziehung eines erfahrenen Rechtsanwalts unerlässlich.
Benötigen Sie rechtliche Unterstützung in einem Fall von Kindesentziehung oder haben Sie Fragen zum Sorgerecht und Umgang? Kontaktieren Sie uns für eine erste Einschätzung oder buchen einen unverbindlichen Gesprächstermin.
Quellenliste:
- Deutsches Strafgesetzbuch (StGB), § 235 Kindesentziehung: https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__235.html
- Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), § 1632 Herausgabe des Kindes: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1632.html
- Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ): https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/full-text/?cid=24
- Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-Verordnung): https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32003R2201
- Bundesamt für Justiz (BfJ) – Internationale Kindesentführung: https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Internationale_Kindesentfuehrung/Internationale_Kindesentfuehrung_node.html
- Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 18.07.2013 – III-1 UF 103/13 (ggf. über einschlägige juristische Datenbanken recherchierbar)