Die Kindesentziehung, also das Vorhalten eines Kindes einem Elternteil oder Sorgeberechtigten ist in §235 StGB geregelt.
Vorhalten kann jeder Umgangsboykott sein (siehe hier Entfremdung ist auch Körperverletzung), aber auch ein komplettes Untertauchen mit dem Kind.
Dieser §235 StGB lautet:
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1.
eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List oder
2.
ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein,
den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger entzieht oder vorenthält.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger
1.
entzieht, um es in das Ausland zu verbringen, oder
2.
im Ausland vorenthält, nachdem es dorthin verbracht worden ist oder es sich dorthin begeben hat.
§235 StGB
Unterscheidung Entziehung Minderjähriger im Inland und Ausland
Der Straftatbestand unterscheidet also zwischen In- und Ausland. Im Inland können Eltern – anders als Dritte – ein Kind nur entziehen, wenn diese Gewalt, eine Drohung oder List anwenden. Das ergibt sich aus Nr. 2, der „ohne Angehöriger zu sein“ erwähnt und den besonderen Einschränkungen der Nr. 1
Danach ist eine Entziehung Minderjähriger durch einen Eltern in Deutschland dem anderen Elternteil gegenüber nicht strafbar, außer es wird Gewalt oder eine Drohung/List angewandt – innere Tatsachen, die ohnehin nicht bewiesen werden können bzw. nur durch den Entzieher oder eine Aussage des betroffenen Kindes .
Für die Entziehung in das Ausland soll das nicht gelten. Denn dort ist es schwerer, das Sorgerecht durchzusetzen (BT-Drs 13/8587).
EU-Recht: Keine Unterscheidung innerhalb der EU, Art. 21 AEUV
Dem steht aber das Unionsrecht in Form der AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) entgegen. Art. 21 AEUV steht einer Anwendung des §235 Abs. 2 Nr. 1 StGB (also der Verbringung in das Ausland ohne List, Drohung, Gewalt) entgegen, weil jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
Das hat der EuGH in StV 2022, 638 so auch entschieden:
1. Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem aufenthaltsbestimmungsberechtigten Pfleger entzieht, um es in das Ausland zu verbringen, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Entziehen, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht.
2. Während in Deutschland die internationale Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil auf der Grundlage von § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB stets strafbar ist, verhält es sich anders bei der Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil, wenn das Kind im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten wird, da eine solche Tat nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar ist. (Rn. 45)
3. Eine Argumentation, dass es unmöglich oder übermäßig schwierig ist, die Anerkennung einer gerichtlichen Sorgerechtsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat und im Fall der internationalen Entführung eines Kindes seine sofortige Rückgabe zu erreichen, läuft darauf hinaus, die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzusetzen, und steht im Widerspruch zu den Regeln und zum Grundgedanken der Brüssel IIa-VO. (Rn. 48)
4. Die Brüssel IIa-VO ist auf den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützt. Letzterer verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass er davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. (Rn. 49)
BeckRS 2020, 31283, EuGH (Vierte Kammer), Urteil vom 19.11.2020 – C-454/19
Noch deutlicher wird der EuGH hier:
1. Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer Gesetzesbestimmung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es, wenn ein Elternteil sein Kind dem bestellten Pfleger in einem anderen Mitgliedstaat vorenthält, selbst dann einen Straftatbestand darstellt, wenn dies nicht mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht, während ein entsprechendes Vorenthalten, wenn sich das Kind im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats befindet, nur dann strafbar ist, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht. (Rn. 50)
2. Während in Deutschland die internationale Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil auf der Grundlage von § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB stets strafbar ist, verhält es sich anders bei der Entziehung eines Kindes durch seinen Elternteil, wenn das Kind im deutschen Hoheitsgebiet zurückgehalten wird, da eine solche Tat nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List strafbar ist. (Rn. 45)
3. Eine Argumentation, dass es unmöglich oder übermäßig schwierig ist, die Anerkennung einer gerichtlichen Sorgerechtsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat und im Fall der internationalen Entführung eines Kindes seine sofortige Rückgabe zu erreichen, läuft darauf hinaus, die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzusetzen, und steht im Widerspruch zu den Regeln und zum Grundgedanken der Brüssel IIa-VO. (Rn. 48)
4. Die Brüssel IIa-VO ist auf den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützt. Letzterer verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass er davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. (Rn. 49)
EuGH (Achte Kammer), Beschluss vom 16.05.2022 – C-724/21, BeckRS 2022, 11880
Der EuGH kommt also zu dem Ergebnis, dass eine Bundestagsdrucksache mit wesentlichen Grundgedanken der Europäischen Union nicht vereinbar ist. Diese harte Kritik muss man erst einmal auf sich sacken lassen. Aber eigentlich ist sie ja logisch.
Entziehung von 10 Metern konnte früher strafbar sein
Wenn man früher nur über eine „grüne“ Grenze ging, konnte dies bereits strafbar sein. Wenn also ein Elternteil einen Tagesausflug ohne Zustimmung des anderen ins EU-Ausland machte, konnte dies strafbar sein – Urlaube auch, soweit hierdurch das Kind dem anderen entzogen wurde (zu spät zurückgebracht, Umgangsausfall usw.). Dass es keinen Unterschied machen kann, ob ich von Karlsruhe nach Straßburg fahre oder von Berlin nach Hamburg, versteht sich eigentlich von selbst. Noch deutlicher wird dies, wenn eine Multinationale Beziehung zu dem Kind geführt hat, weil ein Niederländer, der nach Hause geht, sich kaum strafbarer machen kann als sein Arbeitskollege, der Deutscher ist und genauso weit nach Hause geht – nur nicht über die Grenze.
Bedeutung
Absatz 2 des §235 StGB hat daher nur noch außerhalb der EU Bedeutung. Sinnvoller wäre es aber, einfach die Unterscheidung zwischen Abs. 1 und 2 abzuschaffen. Das wäre klarer für alle beteiligten.
In die folgenden Länder kann man daher sein Kind bedenkenlos mitnehmen, auch gegen den Willen eines Elternteils oder Ergänzungspflegers:
Belgien, Bulgarien, Tschechien, Dänemark, Deutschland, Estland, Irland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Kroatien, Italien, Zypern, Lettland, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Finnland und Schweden.
Eine Aufforderung zur Entziehung Minderjähriger möchte ich hierin aber nicht sehen. Ein Kind braucht nämlich seine Eltern. Aber für den Widerstand gegen eine überbordende Staatsgewalt mag die Kenntnis dieser Entscheidungen von erheblicher Bedeutung sein.