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Befangenheit von Richtern im Familienrecht: Ihre Rechte und das Verfahren

Im komplexen Feld des Familienrechts ist das Vertrauen in die Unparteilichkeit der entscheidenden Richter von höchster Bedeutung. Der Begriff der Befangenheit von Richtern beschreibt eine Situation, in der begründete Zweifel an der Unabhängigkeit und Neutralität eines Richters bestehen. Auf familienrecht.activinews.tv möchten wir Ihnen als Experten im Familienrecht dieses wichtige Thema näherbringen. Wir beleuchten die Voraussetzungen der Befangenheit, wann keine Befangenheit vorliegt, und geben Ihnen praktische Hinweise zum Vorgehen.

Wann ist ein Richter befangen? Die Voraussetzungen im Überblick

Die Befangenheit eines Richters ist gegeben, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 2 ZPO, der im FamFG entsprechend anwendbar ist, vgl. § 113 Abs. 1 FamFG). Es geht dabei nicht um die tatsächliche Voreingenommenheit des Richters, sondern um den objektiven Anschein der Befangenheit aus der Sicht eines vernünftigen Beteiligten.

Die wichtigsten Voraussetzungen für die Befangenheit eines Richters sind:

  1. Vorliegen eines Befangenheitsgrundes: Dies können Tatsachen oder Umstände sein, die vernünftigerweise den Eindruck erwecken, der Richter stehe der Sache oder einer Partei nicht unvoreingenommen gegenüber.
  2. Geeignetheit zur Misstrauensbegründung: Der Befangenheitsgrund muss objektiv geeignet sein, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Subjektive Empfindungen oder bloße Mutmaßungen genügen nicht.

Die Gründe für eine mögliche Befangenheit sind vielfältig und im Gesetz nicht abschließend aufgezählt. Typische Beispiele sind:

  • Persönliche Beziehungen: Verwandtschaft, Freundschaft oder Feindschaft zu einer der Parteien oder deren Rechtsanwälten.
  • Eigene Betroffenheit: Der Richter ist selbst in einer ähnlichen rechtlichen Auseinandersetzung verwickelt oder hat ein persönliches Interesse am Ausgang des Verfahrens.
  • Vorherige Äußerungen oder Handlungen: Äußerungen oder Handlungen des Richters außerhalb des Verfahrens, die eine Vorfestlegung oder eine ablehnende Haltung gegenüber einer Partei erkennen lassen.
  • Mitwirkung in Vorinstanzen oder anderen Verfahren: Unter bestimmten Umständen kann die Mitwirkung des Richters in einem früheren Verfahren, das mit dem aktuellen zusammenhängt, Befangenheit begründen.

Wann liegt keine Befangenheit vor? Subjektive Eindrücke und allgemeine Ansichten

Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht jede Unzufriedenheit mit der Verfahrensführung oder der vorläufigen Einschätzung des Richters eine Befangenheit begründet.

Keine Befangenheit liegt in der Regel vor bei:

  • Sachlichen Entscheidungen und Verfahrensweisen: Eine abweisende Entscheidung, die Ablehnung eines Beweisantrags oder eine – aus Sicht einer Partei – ungünstige Verfahrensleitung stellen für sich genommen keine Befangenheit dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.2018 – 1 BvR 2931/17). Richter sind gehalten, das Verfahren nach ihrer Rechtsauffassung zu führen.
  • Allgemeinen Rechtsansichten: Die generelle Rechtsauffassung eines Richters zu bestimmten familienrechtlichen Fragen begründet keine Befangenheit, solange diese im Rahmen der Gesetze und der Rechtsprechung liegt.
  • Bloßen Vermutungen oder subjektiven Eindrücken: Die bloße Besorgnis einer Partei, der Richter könnte befangen sein, ohne dass objektive Gründe vorliegen, reicht für einen Befangenheitsantrag nicht aus.
  • Der bloßen Ablehnung von Anträgen: Dass ein Richter Anträge einer Partei ablehnt, bedeutet nicht automatisch, dass er befangen ist. Dies kann auf einer abweichenden Rechtsauffassung oder der Würdigung des Sachverhalts beruhen.

Erstreckt sich Befangenheit auf mehrere Verfahren?

Die Frage, ob sich die Befangenheit eines Richters auf mehrere Verfahren erstreckt, lässt sich nicht pauschal beantworten. Grundsätzlich ist die Befangenheit verfahrensbezogen. Das bedeutet, ein Befangenheitsgrund, der in einem konkreten Verfahren besteht, wirkt sich zunächst nur auf dieses Verfahren aus.

Allerdings kann sich eine festgestellte Befangenheit unter Umständen auf andere, eng zusammenhängende Verfahren erstrecken, insbesondere wenn der Befangenheitsgrund eine generelle Haltung des Richters gegenüber einer bestimmten Person oder einem bestimmten Sachverhaltskomplex betrifft. Dies ist jedoch eine Frage des Einzelfalls und hängt stark von der Art und dem Umfang des Befangenheitsgrundes ab.

Beispielsweise könnte eine offenkundige Feindschaft eines Richters gegenüber einer Partei in einem Scheidungsverfahren auch in einem nachfolgenden Unterhaltsverfahren zwischen denselben Parteien einen Befangenheitsantrag rechtfertigen. Entscheidend ist, ob der ursprüngliche Befangenheitsgrund die Besorgnis rechtfertigt, der Richter werde auch im neuen Verfahren nicht unvoreingenommen sein.

Fünf Entscheidungsbeispiele zur Befangenheit von Familienrichtern:

Um die Anwendung der Grundsätze zur Befangenheit im Familienrecht zu verdeutlichen, betrachten wir fünf Entscheidungsbeispiele:

  1. OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.08.2019 – 6 UF 131/19: Eine Richterin hatte in einem parallel geführten einstweiligen Anordnungsverfahren eine Wertung vorgenommen, die die Mutter als „unkooperativ“ bezeichnete. Das OLG sah hierin eine Begründung für die Besorgnis der Befangenheit im Hauptsacheverfahren zum Umgangsrecht, da die vorläufige Wertung den Eindruck erweckte, die Richterin habe sich bereits eine feste Meinung gebildet, die die Mutter benachteiligte.
  2. BGH, Beschluss vom 16.05.2018 – XII ZB 107/18: Die bloße Tatsache, dass ein Richter in einem früheren Verfahren eine für eine Partei ungünstige Entscheidung getroffen hat, begründet in der Regel keine Befangenheit für ein nachfolgendes Verfahren zwischen denselben Parteien. Entscheidend ist, ob zusätzliche Umstände hinzutreten, die den Anschein der Befangenheit erwecken.
  3. OLG Celle, Beschluss vom 17.07.2017 – 10 UF 103/17: Die private Bekanntschaft eines Richters mit dem Verfahrensbevollmächtigten einer Partei kann einen Befangenheitsgrund darstellen, insbesondere wenn diese Bekanntschaft über das übliche Maß hinausgeht und den Eindruck erweckt, der Richter könnte dadurch beeinflusst sein.
  4. OLG Brandenburg, Beschluss vom 22.02.2016 – 9 UF 178/15: Äußerungen eines Richters während einer Anhörung, die eine erkennbare Voreingenommenheit gegenüber einer Partei zum Ausdruck bringen (z.B. abfällige Bemerkungen), können die Besorgnis der Befangenheit begründen.
  5. BVerfG, Beschluss vom 21.07.2015 – 1 BvR 1237/15: Die Mitwirkung eines Richters in einer Vorinstanz führt nicht automatisch zur Befangenheit in der Rechtsmittelinstanz. Entscheidend ist, ob der Richter sich in der Vorinstanz bereits so intensiv mit der Sache auseinandergesetzt hat, dass der Anschein entsteht, er gehe mit einer vorgefassten Meinung in die neue Verhandlung.

Wie stellen Sie einen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit? Schritt für Schritt

Wenn Sie den Eindruck haben, dass ein Richter in Ihrem Familienrechtsverfahren befangen ist, können Sie einen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit stellen. Das Verfahren hierfür ist in §§ 44 ff. ZPO geregelt, die über § 113 Abs. 1 FamFG auch im familiengerichtlichen Verfahren gelten.

Die wichtigsten Schritte zur Stellung eines Befangenheitsantrags:

  1. Schriftlicher Antrag: Der Antrag muss schriftlich beim zuständigen Familiengericht eingereicht werden.
  2. Er muss im Namen der betroffenen Partei erfolgen, nicht im Namen des Anwalts/der Anwältin.
  3. Begründung: Der Antrag muss die Gründe enthalten, aus denen die Befangenheit des Richters abgeleitet wird. Diese Gründe müssen konkret und nachvollziehbar dargelegt werden. Bloße Behauptungen oder Mutmaßungen genügen nicht.
  4. Benennung des abgelehnten Richters: Der Antrag muss den Namen des Richters enthalten, dessen Ablehnung begehrt wird.
  5. Unverzüglichkeit: Der Antrag sollte unverzüglich gestellt werden, nachdem der Ablehnungsgrund bekannt geworden ist (§ 43 ZPO). Eine schuldhafte Verzögerung kann zur Unzulässigkeit des Antrags führen.
  6. Die Gründe müssen glaubhaft gemacht werden, was in der Regel nur mit präsenten Beweismitteln (Akteninhalt, eidesstattliche Versicherung) und dem Hinweis auf die dienstliche Stellungnahem des Richters möglich ist.

Nach Eingang des Antrags nimmt der abgelehnte Richter zunächst Stellung zu den vorgebrachten Gründen (§ 44 Abs. 2 ZPO). Anschließend entscheidet das Gericht über den Antrag. Zuständig für die Entscheidung ist in der Regel ein anderes Kollegialorgan (z.B. ein anderer Familienrichter/Senat am Oberlandesgericht).

Wichtiger Hinweis: Ein Ablehnungsantrag sollte wohlüberlegt sein, da er das Verfahren verzögern kann (was insbesondere bei herausgenommenen Kindern problematisch sein kann) und bei unbegründeter Antragstellung keine positiven Auswirkungen hat. Es ist ratsam, vor der Stellung eines Antrags rechtlichen Rat einzuholen.

Konkrete Handlungsanweisungen bei vermuteter Befangenheit:

  1. Sorgfältige Beobachtung: Achten Sie auf Äußerungen und Verhaltensweisen des Richters während der Verhandlungen.
  2. Dokumentation: Notieren Sie konkrete Vorfälle, die den Eindruck der Befangenheit erwecken könnten (Datum, Uhrzeit, genauer Wortlaut).
  3. Rechtlichen Rat einholen: Besprechen Sie Ihre Beobachtungen mit Ihrem Rechtsanwalt. Dieser kann die Erfolgsaussichten eines Befangenheitsantrags einschätzen und Sie im weiteren Vorgehen beraten.
  4. Antrag sorgfältig begründen: Verfassen Sie den Ablehnungsantrag gemeinsam mit Ihrem Anwalt und legen Sie die Gründe detailliert und sachlich dar.

Fazit: Ihr Recht auf einen unparteiischen Richter

Das Recht auf einen unparteiischen Richter ist ein fundamentaler Bestandteil eines fairen Verfahrens. Die Befangenheit von Richtern kann das Vertrauen in die Justiz erschüttern. Es ist wichtig, die Voraussetzungen für eine Befangenheit zu kennen und zu wissen, wann ein Ablehnungsantrag gerechtfertigt sein kann. Bei Zweifeln sollten Sie nicht zögern, rechtlichen Rat einzuholen, um Ihre Rechte zu wahren.

Benötigen Sie Unterstützung in einem familienrechtlichen Verfahren oder haben Sie Fragen zur Befangenheit eines Richters? Kontaktieren Sie uns auf familienrecht.activinews.tv oder buchen einen Termin für eine Einschätzung.


Quellenliste:

  • Zivilprozessordnung (ZPO), §§ 42-49 Ablehnung eines Richters: https://www.gesetze-im-internet.de/zpo/__42.html
  • Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), § 113 Verfahrensvorschriften: https://www.gesetze-im-internet.de/famfg/__113.html
  • Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 17.04.2018 – 1 BvR 2931/17: (Abrufbar über die Datenbank des BVerfG)
  • Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 16.05.2018 – XII ZB 107/18: (Abrufbar über die Rechtsprechungsdatenbank des BGH)
  • Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt, Beschluss vom 28.08.2019 – 6 UF 131/19: (Abrufbar über einschlägige juristische Datenbanken)
  • Oberlandesgericht (OLG) Celle, Beschluss vom 17.07.2017 – 10 UF 103/17: (Abrufbar über einschlägige juristische Datenbanken)
  • Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg, Beschluss vom 22.02.2016 – 9 UF 178/15: (Abrufbar über einschlägige juristische Datenbanken)
  • Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 21.07.2015 – 1 BvR 1237/15: (Abrufbar über die Datenbank des BVerfG)
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Recht allgemein Sorgerecht

Kindesentziehung: Was Sie wissen müssen – Voraussetzungen und wann keine vorliegt

Die plötzliche Entfernung eines Kindes durch einen Elternteil ist ein Albtraum für den anderen. Der Begriff der Kindesentziehung weckt starke Emotionen und birgt komplexe rechtliche Fragen. Auf familienrecht.activinews.tv möchten wir Ihnen als Experten im Familienrecht Klarheit verschaffen. Dieser Beitrag beleuchtet die Voraussetzungen der Kindesentziehung nach deutschem und europäischem Recht, geht darauf ein, wann keine Kindesentziehung vorliegt, und gibt Ihnen konkrete Handlungsempfehlungen.

Was genau versteht man unter Kindesentziehung?

Die Kindesentziehung ist im deutschen Strafgesetzbuch in § 235 StGB geregelt. Danach macht sich strafbar, wer einem Elternteil, der das Personensorgerecht hat, oder wer einem Vormund das Kind widerrechtlich entzieht oder vorenthält.

Die wichtigsten Voraussetzungen für eine Kindesentziehung nach § 235 StGB sind:

  1. Bestehendes Personensorgerecht des anderen Elternteils oder eines Vormunds: Dies ist die grundlegende Voraussetzung. Ohne ein bestehendes Sorgerecht des anderen Elternteils kann keine strafrechtliche Kindesentziehung vorliegen. Das Sorgerecht kann durch Gesetz (z.B. bei verheirateten Eltern), durch gerichtliche Entscheidung oder durch eine Sorgeerklärung begründet sein.
  2. Widerrechtliches Entziehen oder Vorenthalten des Kindes:
    • Entziehen bedeutet, dass das Kind gegen den Willen des sorgeberechtigten Elternteils oder des Vormunds aus dessen Obhut entfernt wird.
    • Vorenthalten liegt vor, wenn das Kind nach einer erlaubten Ortsveränderung (z.B. nach einem Umgangswochenende) nicht an den sorgeberechtigten Elternteil zurückgegeben wird. Die Widerrechtlichkeit ergibt sich dabei aus der Verletzung des Sorgerechts des anderen Elternteils.
  3. Eltern können in Deutschland nur mit List, Drohung oder Gewalt entziehen, nicht aber durch bloße Untätigkeit der Rückgabe. Anderes soll bei Entziehung ins Ausland gelten, nicht aber innerhalb der EU (Freizügigkeit).

Wann liegt keine Kindesentziehung vor? Insbesondere bei nicht zurückgekehrten Kindern nach Umgang?

Eine wichtige Unterscheidung ist, wann ein Verhalten nicht als Kindesentziehung im Sinne des § 235 StGB zu werten ist. Dies ist besonders relevant in Fällen, in denen Kinder nach einem Umgang nicht zum anderen Elternteil zurückgebracht werden.

Keine Kindesentziehung liegt in folgenden Fällen vor:

  • Kein gemeinsames Sorgerecht oder kein Sorgerecht des anderen Elternteils: Hat der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, das alleinige Sorgerecht, so kann die Nichtrückgabe des Kindes nach einem Umgang mit dem anderen Elternteil grundsätzlich keine Kindesentziehung im strafrechtlichen Sinne darstellen, da es an dem durch die Handlung beeinträchtigten Sorgerecht fehlt.
  • Kein Herausgabetitel: Fehlt eine gerichtliche Entscheidung (Herausgabebeschluss gemäß § 1632 BGB) oder eine vereinbarte Umgangsregelung, die die Rückgabe des Kindes nach einem Umgang explizit anordnet, so ist die Nichtrückgabe allein nicht automatisch als widerrechtliches Vorenthalten im Sinne des § 235 StGB zu qualifizieren (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 18.07.2013 – III-1 UF 103/13). Das bedeutet, solange keine klare rechtliche Grundlage für die Herausgabe des Kindes existiert, kann die Nichtrückgabe nach einem Umgang strafrechtlich nicht als Kindesentziehung verfolgt werden. Allerdings können zivilrechtliche Ansprüche auf Herausgabe bestehen.
  • Einverständnis des sorgeberechtigten Elternteils: Wenn der sorgeberechtigte Elternteil mit dem Aufenthalt des Kindes beim anderen Elternteil einverstanden ist, liegt keine Entziehung vor.
  • Gefahr für das Kindeswohl: In extremen Fällen, in denen eine unmittelbare Gefahr für das Wohl des Kindes bei einer Rückkehr zum anderen Elternteil bestehen würde, kann die Nichtrückgabe unter Umständen gerechtfertigt sein (Notstand gemäß § 34 StGB). Dies sind jedoch Ausnahmefälle, die einer sorgfältigen Prüfung bedürfen.
  • Es liegt eine Entziehung der Eltern vor, ohne dass List, Gewalt oder Drohung angewandt wurde.

Welche Rolle spielt das EU-Recht bei Kindesentziehung?

Neben dem deutschen Recht spielt das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) eine zentrale Rolle, wenn ein Kind über eine internationale Grenze verbracht wurde. Deutschland ist Vertragsstaat des HKÜ.

Die Hauptziele des HKÜ sind:

  • Die sofortige Rückführung widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort widerrechtlich zurückgehaltener Kinder sicherzustellen.
  • Die Ausübung des Sorge- und Umgangsrechts zu schützen.

Nach dem HKÜ ist die Verbringung oder das Zurückhalten eines Kindes widerrechtlich, wenn:

  • es unter Verletzung eines Sorge- oder Umgangsrechts erfolgt ist, das einer Person, einer Einrichtung oder einer anderen Stelle nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor der Verbringung oder dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
  • dieses Recht im Zeitpunkt der Verbringung oder des Zurückhaltens tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls die Verbringung oder das Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das HKÜ sieht ein Rückführungsverfahren vor, in dem das Gericht des Staates, in dem sich das Kind nunmehr befindet, grundsätzlich verpflichtet ist, die Rückführung des Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts anzuordnen. Es gibt jedoch Ausnahmen von dieser Rückführungspflicht, beispielsweise wenn eine schwerwiegende Gefahr für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes besteht (Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ).

Innerhalb der Europäischen Union gilt zusätzlich die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-Verordnung), die das HKÜ ergänzt und in einigen Punkten modifiziert. Sie regelt die Zuständigkeit der Gerichte und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.

Konkrete Beispiele zur Anwendung des Gesetzes:

Um die Anwendung der Gesetze zu verdeutlichen, betrachten wir drei Beispiele:

Beispiel 1: Gemeinsames Sorgerecht, gerichtlicher Herausgabebeschluss liegt vor

Anna und Ben haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Lisa (6 Jahre). Nach einem gerichtlich geregelten Umgangswochenende bei Ben bringt dieser Lisa nicht wie vereinbart zu Anna zurück. Hier liegt keine Kindesentziehung gemäß § 235 StGB vor, da Anna zwar auch das Sorgerecht besitzt und die Nichtrückgabe gegen den gerichtlichen Herausgabebeschluss verstößt, was die Widerrechtlichkeit begründen würde. Aber es liegt keine List, Gewalt oder Drohung vor. Zudem könnte dies auch ein Fall des widerrechtlichen Zurückhaltens im Sinne des HKÜ sein, wenn sich Ben mit Lisa ins Nicht-EU-Ausland begeben hätte. Anna kann daher ohne den Nachweis von List, Drohung oder Gewalt keine strafrechtlichen Schritte einleiten, aber die Herausgabe von Lisa zivilrechtlich beantragen (§ 1632 BGB) oder Ordnungsgeld.

Beispiel 2: Alleiniges Sorgerecht der Mutter, keine gerichtliche Umgangsregelung

Carla hat das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn Max (8 Jahre). Vater David hat regelmäßig Umgang mit Max. Nach einem Umgangswochenende behält David Max bei sich und informiert Carla, dass er Max vorerst nicht zurückbringen wird. Da Carla das alleinige Sorgerecht hat und es keine gerichtliche Entscheidung zur Herausgabe gibt, die David zur Rückgabe verpflichtet, liegt keine strafrechtliche Kindesentziehung gemäß § 235 StGB vor. Carla kann jedoch zivilrechtlich die Herausgabe von Max gemäß § 1632 BGB beantragen und gegebenenfalls eine gerichtliche Umgangsregelung erwirken.

Beispiel 3: Internationale Verbringung bei gemeinsamem Sorgerecht

Die verheirateten Eltern Elena (deutsche Staatsangehörige, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) und Stefan (italienischer Staatsangehöriger, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Sofia (4 Jahre). Ohne Elenas Zustimmung verlässt Stefan mit Sofia Deutschland und reist nach Italien. Hier liegt eine widerrechtliche Verbringung im Sinne des HKÜ vor, da Elena ein Mit-Sorgerecht besitzt und der gewöhnliche Aufenthalt von Sofia in Deutschland war. Elena kann in Deutschland einen Antrag auf Rückführung von Sofia nach dem HKÜ stellen, der dann von den italienischen Behörden bearbeitet wird. Gleichzeitig liegt aber keine Kindesentziehung vor, da die deutschen strafrechtlichen Regeln im Widerspruch zur Freizügigkeit innerhalb der EU stehen.

Welche konkreten Schritte sollten Sie bei einer (vermuteten) Kindesentziehung unternehmen?

Wenn Sie befürchten, dass Ihr Kind widerrechtlich entzogen wurde oder nicht zurückgegeben wird, sind schnelle und überlegte Schritte entscheidend:

  1. Ruhe bewahren: Auch wenn die Situation emotional sehr belastend ist, versuchen Sie, einen kühlen Kopf zu bewahren.
  2. Dokumentation: Sammeln Sie alle relevanten Informationen und Dokumente, wie z.B. Geburtsurkunde des Kindes, Heiratsurkunde (falls vorhanden), Sorgerechtsbeschlüsse, Umgangsvereinbarungen, Kontaktdaten des anderen Elternteils.
  3. Kontaktaufnahme: Versuchen Sie, mit dem anderen Elternteil in Kontakt zu treten, um die Situation zu klären. Dabei können Sie auch wichtige Aspekte zu List, Drohung oder Gewalt sammeln, die eine Entziehung begründen können. Bei der Kontaktaufnahme sollten sie auf Beweisbarkeit achten (Zeuge, der Telefonat mithört, E-Mail, aber keine illegalen Tonbandaufnahmen).
  4. Rechtliche Beratung: Suchen Sie umgehend einen auf Familienrecht spezialisierten Rechtsanwalt auf. Dieser kann die rechtliche Situation einschätzen und die notwendigen Schritte einleiten.
  5. Strafanzeige: Bei einer vermuteten strafrechtlichen Kindesentziehung (§ 235 StGB) kann eine Strafanzeige bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft sinnvoll sein.
  6. Antrag beim Familiengericht: Beantragen Sie beim zuständigen Familiengericht gegebenenfalls die Herausgabe des Kindes (§ 1632 BGB), wenn noch kein Titel vorliegt, oder die Regelung des Sorgerechts und des Umgangs. Die Polizei kann idR auch erst dann helfen, wenn es einen Herausgabetitel gibt.
  7. Bei internationaler Entführung: Wenn das Kind ins Ausland verbracht wurde, informieren Sie umgehend Ihren Rechtsanwalt über den möglichen Aufenthaltsort und prüfen Sie die Möglichkeit eines Rückführungsantrags nach dem HKÜ. In Deutschland ist das Bundesamt für Justiz (BfJ) die zentrale Behörde für internationale Kindesentführungen und unterstützt sie dabei.

Fazit: Schnelles Handeln und rechtlicher Beistand sind entscheidend

Die Kindesentziehung ist ein gravierender Eingriff in das Leben eines Kindes und des zurückgelassenen Elternteils. Das deutsche und europäische Recht bieten Instrumente, um dem entgegenzuwirken. Es ist entscheidend, die Voraussetzungen der Kindesentziehung genau zu kennen und zu wissen, wann keine strafrechtliche Kindesentziehung vorliegt, insbesondere im Kontext nicht zurückgekehrter Kinder nach Umgang ohne klaren Herausgabetitel oder bei Entziehungen ohne List, Drohung und Gewalt oder innerhalb der EU. Im Falle einer (vermuteten) Kindesentziehung ist schnelles Handeln und die Hinzuziehung eines erfahrenen Rechtsanwalts unerlässlich.

Benötigen Sie rechtliche Unterstützung in einem Fall von Kindesentziehung oder haben Sie Fragen zum Sorgerecht und Umgang? Kontaktieren Sie uns für eine erste Einschätzung oder buchen einen unverbindlichen Gesprächstermin.


Quellenliste:

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