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Gutachten

Manipulation und induzierter Wille

Manipulation und induzierter Wille eines Kindes (also von einem anderen in das Kind gelegte Wille) sind Aspekte, mit denen die Gerichte und Juristen so ihre liebe Not haben. Ähnlich wie bei familienpsychologischen Fragen wird dann lieber alles in die Hände eines Fachpsychologen für Rechtspsychologie gelegt. Das ist im Ergebnis zwar richtig, verkennt aber, dass die Grundlagen der psychologischen Ergebnisse belegbare Fakten sein müssen, die zu beschaffen gerichtliche Aufgabe ist. Dazu gehört aber auch, dass man ein wenig Theorie dahinter kennt. Diese möchte ich Euch hier vorstellen. Doch Achtun: Damit ist keine fachpsychologische Bewertung verbunden, ich bin nur Jurist. Im konkreten Fall mag es also Sinn machen, einen Psychologen hinzuzuziehen.

Wann spricht man von einem manipulierten Willen?

Ein manipulierter Wille (induzierter Wille) liegt dann vor, wenn das Kind eine Meinung äußert, welche einer der Konfliktpartei nicht genehm ist (vgl. insoweit Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 6. Auflage 2021, Kapitel 4.5).
Danach soll der durch Beeinflussung entstandene Kindeswille eine Induktion fremden Willens sein und damit nicht zu berücksichtigen. Insoweit ist die Bezugsperson mit mehr Kontakt und Macht im Vorteil, da diese auch mehr manipulieren könne (also die sogenannte umgangsgewährende Person. 

Das ist zum Beispiel so eine Tatsache, die man vortragen oder ermitteln kann und muss.

Was alles ist beeinflusster Wille?

Die gegenseitige Auffassung spricht davon, dass jeder menschliche Wille beeinflussbar ist, auch der Wille Erwachsener (Lempp 1983).

Erziehung insbesondere ist Beeinflussung, sodass Kinder einen Anspruch auf Beeinflussung und Erziehung haben (Lempp 1983).

Jede liebevolle Zuwendung ist Beeinflussung (Köster 1997), so dass sich die Frage stelle, dass bei Beeinflussungen mehrerer Personen sich das Kind für und gegen eine andere Beeinflussung entscheidet und diese Grundlagen zu klären sind und insbesondere jede Art von Beeinflussung seiner psychischen Prägung führt (alles zitiert nach Dettenborn).

Natürlich machen sich daher alle Eltern der Beeinflussung durch Erziehung des Kindes und Zuwendung von Liebe und Aufmerksamkeit „schuldig“. Das kann man auch vortragen und unter Beweis stellen.

Das heißt also, dass man hierzu sehr viel vor Einholung eines Gutachtens vortragen sollte – und danach auch das Gutachten auf Vollständigkeit prüft.

Verschiedene Arten der Induzierung

Komplizierter wird die Situation weiterhin, als das verschiedene Arten der Indizierung unterschieden werden müssen (vgl. Dettenborn aaO S. 94).
Wenn in einem Verfahren also von einen Manipulation gesprochen wird, dann muss zuerst mitgeteilt werden, ob und gegebenenfalls welche Form von Manipulation vorliegt. Hieran scheitern Gerichte, Anwälte, Jugendamt und Psychologen oft. 

Manipulation bedeutet, dass tatsächliche Bindungen sich im Verhalten nicht widerspiegeln

Salzgeber weist in Familienpsychologische Gutachten, 7. Auflage 2020, Rn. 1104, zurecht darauf hin, dass  ein manipulierter Kindeswille dann vorliegt, wenn dieser die tatsächlichen Bindungsverhältnisse nicht widerspiegelt. Auch hierzu kann und muss man vortragen, wenn man dies behauptet.

Dies gilt umso mehr, als dass es eben kein Kriterium gibt, anhand dem man zwischen echten Äußerungen und vereinnahmten unterscheiden könnte (vgl. Kindler in Eltern-Kind Bindungen und geäußerter Kindeswille in hochstrittigen Trennungsfamilien).

Insbesondere unterscheiden Kinder nicht zwischen eigenen Aussagen und Induzierten, weshalb auch die Glaubwürdigkeitsanalyse diesbezüglich nicht hilft (Salzgeber aaO). 

Indirekte Induzierung

Die Wissenschaften unterscheiden weiter zwischen indirekter Induzierung, wie das Gewähren oder Versprechen von Vorteilen, Geschenken, Zuwendungen, Freizügigkeit.

Direkte Induzierung

Die direkte Induzierung hingegen betrifft konkret das Verändern von Einstellung und Willensinhalt von Kindern in Bezug auf bestimmte Personen und in Bezug auf die Zukunft.

Inhalte der Induzierung

Induzierte Inhalte sind vorwiegend Furcht, Ablehnung und Feindseligkeit. 
Die Behauptung, wenn  das Kind dieses oder jenes wolle, dies sei manipulierter Wille, könnte zwar Ablehnung darstellen. Dazu muss man aber vortragen und sich damit auseinandersetzen.

Zu berücksichtigen ist allerdings auch die Frage, wie das Kind trotz oder gerade wegen seines Alters diese Ablehnung begründet

Balloff in Kinder vor dem Familiengericht, 4. Auflage 2022, S. 253 ff., führt zu Recht aus, dass die Wirkfaktoren einer Manipulation darstellbar sind, sowohl auf Eltern als auch Kinderebene. Dies ist eine klare Handlungsanweisung an die Juristen, wird aber oft verkannt.

Unterbleibt dies, dann kann eben auch keine Manipulation behauptet sein.

Offene Induzierung

Offene Indizierung ist, wenn man den Gegner schlecht redet, das, was auch als bindungsintolerant auftritt. Damit wäre aber per se jedes Verfahren Manipulation, insbesondere jedes, das die Voraussetzungen des §1671 BGB bedingt, oder wenn im begleiteten Umgang bestimmte Themen nicht angesprochen werden dürfen oder der Wunsch des Kindes ignoriert werden muss).

Verdeckte Induzierung

Verdecktes Vorgehen ist die nonverbale Kommunikation, vor allem Mimik und Gestik Liebesentzug und Ähnliches. Auch hier muss es Sachvortrag geben.

Abgrenzung zur Normalität

Zu Recht weist Dettenborn (aaO S. 95) auch darauf hin, dass abgegrenzt werden muss zur normalen Erziehung, die die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes fördert einerseits gegen die Beeinflussung, bei der Ziele eines Erwachsenen im Konflikt durchgesetzt werden sollen. Äußere Anpassung und Verinnerlichung müssen vorliegen, um Induzierung anzunehmen (Dettenborn und Walter, Familienrechtspsychologie, 4. Auflage 2022, S. 100).  
Die Identität wird von solchen Induzierungen insoweit gestaltet, als dass diese bei Durchsetzung das Selbstvertrauen stärken, das Negieren dann aber das Gegenteil erreichen würde (vgl. hierzu auch OLG Frankfurtt 1 UF 94/93).
Das OLG Hamm hat in 11 UF 12/98 darauf hingewiesen, dass als eine Voraussetzung genannte Ablehnung von Kontakt … auf einer inneren Ablehnung beruhen muss, der tatsächliche oder auch eingebildete, nicht sachgerecht verarbeitete Ereignisse zugrunde liegen.

Auch hier muss also vorgetragen werden, welche Ereignisse es gibt, muss es Beweisaufnahmen geben usw.

Wann eine Manipulation nicht klappt

Einflüsse gegen vorhandene Einstellungen und Absichten eines Kindes sind in der Regel wenig wahrscheinlich (Dettenborn aaO S. 96).

Bedenklich, so Salzgeber, ist es insoweit, wenn man den Willen eines Kindes als nicht rational sieht und manipuliert, gleichzeitig aber dann den Willen nicht bei der gerichtlichen Regelung berücksichtigt, wie vorliegend (Salzgeber aaO).

Der Wille des Kindes sollte, so Balloff  aaO S. 251, nicht einem rechtlich wünschenswerten Ziel geopfert werden. Denn dadurch würde dieser Wille an Bedeutung verlieren.

Solch ein Wille ist, da Kinder Subjekte sind, zu berücksichtigen, weil Kinder fähig sind, sich Handlungsräume und Freiheitsgrade anzueignen.

Fazit

Hier kann und muss der Jurist die Argumente und Aspekte, wie oben oberflächlich dargestellt, bedienen, Beweise anbieten und strukturiert Belege vorlegen. Das erhöht die Chancen auf ein Gutachten oder eine Entscheidung in eurem Sinne.

Literaturempfehlungen:

Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 6. Auflage 2021

Dettenborn und Walter, Familienrechtspsychologie, 4. Auflage 2022

Balloff in Kinder vor dem Familiengericht, 4. Auflage 2022

Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, 7. Auflage 2020

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Familienpolitik

Fakenews: „Es ist Fakt, dass dieses Kind niemals missbraucht worden ist“

Ja, ich weiss, eigentlich sollte ich mich nicht äußern, weil ich mit der betroffenen Elternperson auch so meine Probleme habe, aber wie Ihr ja wisst kann und will und werde ich fachlichen und menschlichen Unsinn niemals akzeptieren. Wenn eine Andrea Zuercher von der AFD auf TikTok genau jenen Satz äußert „Es ist Fakt, dass dieses Kind niemals missbraucht worden ist“, dann ist für den Kinderschützer und Familienrechtler zwar eigentlich mit der Parteizugehörigkeit dieser Dame alles ausgesagt, was aber nicht bedeutet, dass sie auch recht hat. Jeder, der sich mit Missbrauch beschäftigt, weiss, dass eine solche Aussage populistischer Scheissdreck ist, was ja irgendwie wieder zur AFD passt. Gleichwohl möchte ich Euch erklären, warum eine solche Aussage schlicht Blödsinn ist.

@andreazuercherafd

Mein Statement zum "Kentler Fall" in Berlin!

♬ 【No drums】 Emotional space-like epic … – MoppySound

Missbrauch ist nie auszuschließen

Missbrauch von Kindern ist leider nie ganz auszuschließen, außer der Täter legt ein glaubwürdiges Geständnis vor, es gibt eindeutige Missbrauchsspuren medizinischer Art oder psychologische Auffälligkeiten oder gar Zeugen/Beweisvideos.

Das Gegenteil hingegen, dass kein Missbrauch stattgefunden hat, ist in der Regel niemals vollständig beweisbar.

Psychologische Gutachten

Salzgeber äußert sich hierzu wie folgt in Familienpsychologische Gutachten:

„Auch wenn … ein sexueller Missbrauchsvorwurf nicht bestätigt werden kann, so kann nicht der sichere Schluss gezogen werden, dass kein Missbrauch oder Übergriffe stattgefunden haben.“

Salzgeber, Rn. 859

Es gibt eben keine sicheren psychologischen Kriterien für einen solchen Nachweis.

Dasselbe gilt im Übrigen auch für die Aussagepsychologie. Denn diese scheitert oft am Alter des Opfers (Aussagefähigkeit), an psychischen Problemen desselben oder schlicht an mangelhaftem fachlichen Vorgehen.

Medizinische Befunde

Ich zitiere insoweit aus einem medizinischen Bericht einer Universitätsklinik:

„Es erfolgte außerdem eine rechtsmedizinische und gynäkologische Untersuchung am xx.xx.2022. Dort konnte kein Hinweis auf sexuellen Missbrauch gefunden werden. Dies schließt einen sexuellen Missbrauch jedoch nicht aus, da sich das kindliche Genital sehr schnell regenerieren kann. Die mikrobiologisch untersuchten Proben der Vagina (Abstrich) und des Urins brachten keinen Keimnachweis. Auch dies spricht weder für noch gegen das Vorliegen von Kindesmissbrauch.“

Bericht einer Universitätsklinik aus 2022

Auch das Hymnen (Jungfernhäutchen) muss bei Verkehr oder im Alltag nicht zwingend reißen (vgl. z.B. hier). Auch bei Analverkehr muss es nicht zwingend Verletzungen und damit Spuren geben.

Fazit

Es gibt also keine Möglichkeit, sicher einen Missbrauch auszuschließen (außer eben bei selbsternannten TikTok-Helden). Genau deshalb, wegen solchem Blödsinn der zu weiterem unentdeckten Missbrauch führen kann, warne ich regelmäßig davor, sein familienrechtliches Schicksal in die Hände von selbsternannten und fachlich disqualifizierten Helfern zu legen. Das schließt zwar Teile der Anwaltschaft mit ein, diese begeht aber in der Regel nicht solche mediale Selbstjustiz, die ich zutiefst verabscheue. Solche Leute helfen keinem Kind, nur ihrem eigenen Ego.

Die von mir vertretenen Väter, die fälschlicherweise des Missbrauchs beschuldigt werden oder wurden, sowie die Mütter, die diesen Verdacht hegen, aber auch ich, wir setzen uns für eine ordentliche, fachlich hochwertige Aufklärung von Vorwürfen ein. Dies findet in vielen Kinderschutzambulanzen oder bei vielen Familiengerichten nicht oder nicht zureichend statt. Solche medialen Massaker helfen hingegen keinem einzigen missbrauchten Kind.

Michael Langhans, 06.06.2023

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Gutachten

Die psycho-physiologische Aussagebegutachtung (Polygraphie)

In Familiensachen mit schwieriger Beweislage kann die psycho-physiologischen Aussagebegutachtung (Polygraphie) durchaus eine wichtige Rolle einnehmen, auch wenn sie von vielen Juristen stigmatisiert wird als „vollkommen ungeeignet“. Und es gibt eine ganze Menge (familiengerichtliche) Entscheidungen, die solche Polygraphie-Untersuchungen (ggf. als eines von mehreren Beweismitteln) zulassen:

Entscheidungen mit Bezug auf die psycho-physiologische Aussagebegutachtung (Polygraphie)

In den folgenden Entscheidungen wird ein Polygraphentest durchaus im Rahmen der Beweiswürdigung im Freibeweisverfahren vor dem Familiengericht zugebilligt:

OLG Bamberg 7 WF 122/94

OLG München 12 UF 1147/98

AG Bautzen 40 Ls 330 Js 6351/12 mit Hinweis auf ein familiengerichtliches Verfahren

AG Schwäbisch Hall 2 F 88/21

AG Schwäbisch Hall 2 F 150/20

OLG Dresden 21 UF 787/12

OLG Oldenburg 4 UF 60/96

Argumente für den Einsatz des Polygraphen

Das OLG München führt hierzu aus:

„Beim Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs bietet die Untersuchung mit einem Polygraphen eine sichere und schnelle Entscheidungshilfe zur Erfassung wahrheitsgemäßer Aussagen. Bei der elterlichen Sorge und dem Umgangsrecht handelt es sich um FGG-Verfahren (§§ 621 a Abs. 1621 Abs. 1 Nr. 12 ZPO), in denen der Untersuchungsgrundsatz gilt. Das Gericht hat von Amts wegen die notwendigen Tatsachen festzustellen und die objektive Wahrheit zu ergründen (Keidl-Kuntze-Winkler, FGG, 13. Auflage, § 12 RdNr. 21). Über den gesamten Inhalt des Verfahrens entscheidet das Gericht in freier Beweiswürdigung, wobei es die volle Überzeugung vom Vorliegen beweiserheblicher Tatsachen haben muß (Keidl-Kuntze-Winkler a.a.O. RdNr. 190). Kann ein entscheidungserheblicher Punkt nicht geklärt werden, ist dies zu Lasten desjenigen zu werten, den die Feststellungslast trifft (Keidl-Kuntze-Winkler a.a.O.). Beim Vorwurf sexuellen Mißbrauchs mit einem Kinde geht es regelmäßig wie auch im vorliegenden Fall, um die Behauptung des Kindsvaters, unschuldig zu sein, d.h. um den Nachweis seiner Unschuld. Die Sachlage ist damit völlig anders als im Strafprozeß (OLG Karlsruhe, StV 1998, 530).

OLG München, 25.11.1998 – 12 UF 1147/98

Die Untersuchung mit einem Polygraphen ist im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ein geeignetes Mittel, einen Unschuldigen zu entlasten

OLG Dresden

Auf Grund der wissenschaftlichen Forschungen bietet die Untersuchung mit dem Polygraphen einen sehr hohen Wahrscheinlichkeitsbeweis, wenn sie zum Ergebnis kommt, daß der Verdächtige unschuldig ist. Ergibt die Untersuchung dagegen, daß der Proband die tatbezogenen Fragen zu den konkret vorgeworfenen sexuellen Handlungen nicht wahrheitsgemäß beantwortet hat, besteht kein sicherer Nachweis, daß er die Taten tatsächlich begangen hat, sondern nur eine Wahrscheinlichkeit hierfür (Undeutsch FamRZ 1996, 329 ff; Salzgeber/Stadler/Vehrs, Die psychophysiologische Aussagebegutachtung im Rahmen des Familiengerichtsverfahrens, Praxis der Rechtspsychologie 1997, 213 ff). Dies bedeutet im Ergebnis, daß der Proband dann seine Unschuld mit dieser Untersuchung nicht beweisen konnte. Bei der Untersuchung mit dem Polygraphen werden dabei üblicherweise neben allgemein gehaltenen Fragen drei Tatfragen und drei Kontrollfragen gestellt, wobei die Reaktion bei Atmung, Hautleitfähigkeit und Puls/Blutdruck gemessen wird. Erfolgt bei der Beantwortung der Tatfragen eine stärkere Reaktion als bei der Beantwortung der Kontrollfragen, spricht dies für wahrheitswidrige Angaben, im umgekehrten Fall für eine wahrheitsgemäße Aussage. Insgesamt ist die Untersuchung mit dem Polygraphen damit ein geeignetes Mittel im FGG-Verfahren, einen Unschuldigen zu entlasten (OLG Bamberg, NJW 1995, 1684). Im Sinne des Kindeswohls ist dabei auch hervorzuheben und zu beachten, daß das Kind bei einer Entlastung des Probanden regelmäßig nicht mit einem Glaubwürdigkeitsgutachten und den damit zusammenhängenden das Kind belastenden Untersuchungen überzogen werden muß. Die Anwendung des Polygraphen erfordert allerdings, wie der Sachverständige … bei seiner mündlichen Anhörung überzeugend darlegte, daß die sogenannten Tatfragen sehr exakt gestellt werden und den erhobenen Tatvorwurf präzise umfassen müssen, ferner, daß die Kontrollfragen für den Probanden eine emotionale Bedeutung haben. Werden nur allgemeine Tatfragen erhoben, wie „Haben Sie sexuelle Handlungen an Ihrem Kind vorgenommen?“, ermöglicht dies ein innerliches Ausweichen des möglichen Täters mit der Folge einer Verfälschung der Ergebnisse.“

OLG München, 25.11.1998 – 12 UF 1147/98

Polygraph ein völlig ungeeignetes Beweismittel?

Der Bundesgerichtshof hatte zuerst den Polygraphen als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen, diese Rechtsprechung dann aber in 1 StR 156/98 aufgegeben.

Gleichwohl wird in Strafsachen der Polygraphentest nach wie vor als „völlig ungeeignetes Beweismittel“ abgelehnt:

Bei einem Polygraphen handelt es sich um ein Gerät, das körperliche Vorgänge mißt, die der willentlichen Kontrolle des Untersuchten weitgehend entzogen sind (z.B. Blutdruck, Puls- und Atemfrequenz). Dem Beschuldigten werden während der Messung Fragen gestellt, deren Inhalt vom angewendeten Testverfahren abhängt.

Das Kontrollfragenverfahren geht davon aus, daß Täter und Nichttäter auf tatbezogene Fragen einerseits und nicht die Tat betreffende Fragen (Kontrollfragen) andererseits psychisch unterschiedlich reagieren. Dies soll sich in dem mit dem Polygraphen erzielten Meßergebnis niederschlagen, so daß aus einem Vergleich der unterschiedlichen Ausschläge der Meßkurven auf die Täterschaft des Beschuldigten geschlossen werden könne.

Dieses Konzept ist jedoch falsch:

Bereits die Grundannahme trifft nicht zu. Denn nach einhelliger wissenschaftlicher Auffassung ist es nicht möglich, eindeutige Zusammenhänge zwischen emotionalen Zuständen eines Menschen und hierfür spezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystem zu erkennen. So muß beispielsweise die Veränderung des Blutdrucks nicht auf der Entdeckungsfurcht beruhen, sondern kann völlig andere, nicht erfaßbare Ursachen haben. Insbesondere ist nicht nachweisbar und deshalb für den letzt- und eigenverantwortlich entscheidenden Richter nicht überprüfbar, daß der zu Unrecht Verdächtigte emotional gelassener reagiert als der Täter. Die verbreitete Bezeichnung des Polygraphen als „Lügendetektor“ entbehrt daher jeder Grundlage.

Anderes ergibt sich auch nicht aus den Berichten über hohe „Trefferquoten“ (bis zu 98,5 %) bei der Durchführung von Studien. In der Wissenschaft besteht weitgehend Einigkeit, daß sich die in experimentellen Untersuchungen (Labor- und Analogstudien) erzielten Ergebnisse von vornherein nicht auf die gerichtliche Praxis übertragen lassen, weil die Testbedingungen der Wirklichkeit eben nicht entsprechen. Dagegen sind in Feldstudien, d.h. bei Untersuchungen anhand „echter“ Kriminalfälle gewonnene Ergebnisse deshalb ohne jeglichen Beweiswert, weil es keinen Maßstab gibt, ihre Richtigkeit zu überprüfen. Es treten weitere Einwände hinzu: Die mitgeteilten Richtigkeitswerte sind Folgen der Verzerrung des statistischen Fallmaterials und daher statistisch wertlos. Aus den – ohnehin falschen – „Trefferquoten“ der Untersuchungen kann kein Schluß auf die Beweislage im konkreten Einzelfall gezogen werden.

BGH 1 StR 156/98

Ungeeignet bei hoher Trefferquote?

Der Bundesgerichtshof lehnt den Einsatz des Polygraphen daher auch deshalb ab, weil die „Trefferquote“ nicht ausreichend sein soll. Dies wird zurecht kritisiert:

Wegen der hohen Trefferquote hatte Schwabe (NJW 1982, 367) bereits 1982 die Entscheidung eines Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 18.08.1981 –2 BvR 166/81 -, NJW 1982, 375) kritisiert und von einer „brüchigen Logik“ gesprochen. Denn wenn ein Beweismittel mit einer Treffergenauigkeit von 90 % nicht ausreiche, so müsste man folglich allen Beweismitteln, deren Treffergenauigkeit sich nicht über die 90 %-Marke erhebt, ihren Beweiswert absprechen und als völlig ungeeignetes Beweismittel einstufen. Letztendlich ist in der Gerichtspraxis bekannt, dass der Zeugenbeweis hinsichtlich der Trefferquote „Lüge“ oder „Irrtum“ besonders unzuverlässig ist. Dennoch gehört die Zeugenvernehmung zu dem Beweismittel, welches in der gerichtlichen Praxis am häufigsten erhoben wird. Würden entsprechende Anforderungen hinsichtlich der Treffergenauigkeit auch an andere Beweismittel gestellt werden, bliebe letztendlich wohl nur das DNA-Abstammungsgutachten mit 99,9 %-Trefferquote als geeignetes Beweismittel für die Gerichtspraxis übrig.

AG Schwäbisch-Hall 2 F 150/20

Diese Auffassung teile ich. Schauen wir doch auf die familienpsychologischen Gutachten, bei denen bis zu 75% mangelhaft und daher im Ergebnis falsch sind (vgl. gutachten-anfechten.de). Das hat die Studie von Prof. Dr. Werner Leitner ergeben. Danach sind bei diesen Gutachten 95% aller Verhaltensbeobachtungen unsystematisch, die Gesprächsführung zu 80% unspezifiziert und zu 79% ohne Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Literatur.

Wie kann man also ein Beweismittel ablehnen, wenn man schlechtere Beweismittel regelmäßig zulässt?

Und zudem: Gelten die Einwände gegen den Polygraphen, der als psycho-physiologische Aussagebegutachtung eine andere Form der Aussagebegutachtung ist bzw. eine Fortbildung derselben um subjektive Kriterien, dann auch für das Aussagepsychologische Gutachten?

Jedenfalls muss in jedem Fall sichergestellt sein, dass das Gutachten von einem echten Experten erstellt wird.

Anwendbarkeit des Polygraphen (zumindest) in Kindschaftssachen

In Kindschaftssachen gilt die Amtsermittlung und der Freibeweis, nicht der Strengbeweis des Strafverfahrens und Zivilverfahrens. Die Möglichkeiten des FamFG sind anders als in der StPO und der ZPO nicht formell aufgeführt, sondern in Kindschaftssachen vorallem am Wohl des Kindes als oberster Richtschnur orientiert.

Beweiserhebliche Tatsachen sind mit allen vom Gericht für notwendig erachteten Mitteln festzustellen.

Polygraphen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, keine Fehlentscheidungen zu treffen

AG Schwäbisch-Hall

Folgerichtig führt das AG Schwäbisch-Hall – und diesen Ausführungen folge ich – zu Recht aus:

Dabei verpflichtet der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 26 FamFG die Familiengerichte in Kindschaftsverfahren im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen. In besonderer Weise ist das Familiengericht gehalten, die vorhandenen Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen und auf diese Weise nach Möglichkeit zu vermeiden, dass sich die Grundsätze der Feststellungslast zu Lasten des Kindes auswirken (BGH, Beschluss vom 17.02.2010 – XII ZB 68/09 -, NJW 2010, 1351 (1353)). Dies ist letztendlich der entscheidende Aspekt, warum der Polygraph im familiengerichtlichen Verfahren zuzulassen ist, da er – ungeachtet des Meinungsstreits – die Wahrscheinlichkeit zum Wohl des Kindes erhöht, dass das Familiengericht weder in Bezug auf den Kindeswohlaspekt 1 noch in Bezug den Kindeswohlaspekt 2 eine Fehlentscheidung trifft. Denn das Familiengericht trifft letztendlich in derartigen Fällen Entscheidungen, die das Leben eines minderjährigen Kindes betreffen und entscheidende „Weichen“ für die Zukunft dieses jungen Menschen stellen.

AG Schwäbisch-Hall, Beschluss vom 25.10.2021 – 2 F 150/20

Wissenschaftliche Stimmen pro Polygraph

Polygrafie (…) ist ein gut überprüfbares, zuverlässiges Verfahren

Dettenborn und Walter

Dabei weißen Dettenborn und Walter in Familienrechtspsychologie, 4. Auflage 2022 auf S. 376 auf folgendes hin, was ich oben bereits angedeutet habe:

„Die Polygrafie-Methode ist ein spezieller Bereich, in dem aussagepsychologische Kompetenz genutzt werden kann. Wenn im Falle eines sexuellen Missbrauchsverdachts die Aussagen eines Kindes wegen zu geringen Alters, wegen geistiger Mehrfachbefragungen bzw. Behinderung oder infolge suggestiver nach Fremdeinflüssen zeugenschaftlich nicht verwertbar sind, andere Beweise aber nicht zur Verfügung stehen und trotzdem entschieden werden muss, dann ist die Polygrafie-Methode d. h. die physiopsychologische Aussagebeurteilung (alltagssprachlich ‚Lügendetektion’), ein gut überprüftes, vergleichsweise (z. B. Glaubhaftigkeitsgutachten) zuverlässiges Verfahren.“

Dettenborn und Walter, Familienrechtspsychologie

Zudem, hierauf weisen Dettenborn und Walter zurecht hin, gibt es keine andere Möglichkeit bei Missbrauchsverdacht, die eigene Unschuld zu beweisen, weshalb der Beschuldigte einen Anspruch hierauf habe, auch um die sozialen Beziehungen aufrechterhalten zu können (Vermeidung einer Stigmatisierung) und um das Interesse des Kindes an kindeswohldienlichen Beziehungen zu beiden Eltern aufrecht zu erhalten.

Auch Salzgeber äußert sich seit 2001 hierzu:

„Der Polygraph kann im Rahmen der familienpsychologischen Verfahren z. B. dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs im Raum steht [Fn. 611: Siehe Undeutsch FamRZ 1996, 329 — 331]. Es bietet sich der Einsatz immer dann an, wenn das Kind so jung ist, dass weder eine konkrete Aussage vorliegt noch erwartet werden kann oder wenn möglicherweise durch falsche Begutachtung oder falsche aufdeckende Arbeit die Aussage bereits so manipuliert worden ist, dass auf eine zugrundeliegende Tat nicht mehr geschlossen werden kann, der Vorwurf aber dennoch weiter im Raum bleibt [Fn. 612: Siehe: Endres/Scholz NStZ 1994, 473]. […]

Sollte jemand zu Unrecht beschuldigt werden, und dies ist im Familienrechtsverfahren nicht selten der Fall, so wird damit ja nicht nur die familiäre Beziehung zum Kind belastet, wenn nicht gar zerstört, sondern auch möglicherweise eine berufliche Karriere behindert oder soziale Eingebundenheit zerstört (S. 209).“

Salzgeber, Familienpsychologische Gutachten, Auflagen ab 2001 (mit verändertem Text), aktuell Rn. 843 in gekürzter Fassung

Leider gibt es nur wenige echte Experten, die den Polygraphentest nutzen können (Salzgeber aaO). Daher begrenzt das AG Bautzen die in Betracht Ziehung von solchen Gutachten auf Fachpsychologen für Rechtspsychologie, die nachgewiesenermaßen mit der physiopsychologischen Methode vertraut sind und über eine spezielle Ausbildung verfügen zur fachgerechten Bedienung eines Polygrafen und der Interpretation seiner Aufzeichnungen (vgl. Uni Passau).

Entgegen der Auffassung des Bundesgerichtshofs erfolgt die polygraphische Aufzeichnung auch eher aus dokumentierendem Anlass, weshalb Undeutsch und Klein auch den Begriff „forensisch-physiopsychologische Begutachtung“ geprägt, den die Wissenschaft auch verwendet, der vorallem aber verdeutlicht, dass die technischen Aspekte hinter die Aussagepsychologie zurückzutreten haben und nur deren Qualität erhöhen. Vereinfacht ausgesprochen: Wer die Aussagepsychologie anerkennt als geeignetes Beweismittel, muss das mehr, das die physio-psychologische Begutachtung mit sich bringt, erst recht zulassen.

Konklusion: Polygrafie ist geeignet

Im Hinblick auf die oben dargelegten Aspekte ist daher die psycho-physiologische Aussagebegutachtung bzw. der Polygraf/“Lügendetektor“ hervorragend geeignet, um als eines von mehreren Aspekten die Unschuld zu beweisen. Die forensisch-physiopsychologische Begutachtung ist dabei nur ein Aspekt der anerkannten Aussagepsychologie. Andere Mittel des Unschuldsbeweises gibt es nicht. Insbesondere wenn eine Manipulation des Opfers oder altersbedingt/zeitablaufbedingt keine weiteren Beweismittel gewonnen werden können, bietet sich diese Methode an. In Zeiten, in denen Richter bei Glaubhaftigkeitsbewertungen regelmäßig versagen und Gutachten oft so schlecht sind, dass man hiermit nicht einmal die Mülleimer belasten kann, müssen seriösere Methoden zugelassen werden. Dies gilt umso mehr, als dass diese Methode im fairen Verfahren nur eines von vielen Beweisaspekten sein wird.

Zudem hat sich die Fragetechnik in den letzten Jahren erheblich verbessert, so dass auch aus diesen Aspekten keine wissenschaftlichen Bedenken mehr herleiten lassen.

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