Ich bin heute über eine Aussage des Amtsgerichts Wangen zu einer wunderbaren Entscheidung des Obergericht des Kantons Zürich gestolpert, die zur Angst des Kindes vor einem Elternteil auf die denkbar emphatischste Art und Weise eingeht (samt einer eloquenten Belesenheit), die man sich in vielen Verfahren wünscht und die man so selten nur erhält. Das Obergericht nimmt nämlich als Metapher für die Angst Herrn TurTur, den Scheinriesen, als Beispiel. Herr Tur Tur ist eine Figur aus Michael Endes Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer.
Ich darf also Herrn Tur Tur vorstellen im genialen Verfilmungsoriginal „meiner“ Augsburger Puppenkiste:
Was ist ein Scheinriese
Herr Tur Tur ist ein Scheinriese, also ein normalgroßer Mensch, der auf Distanz als Riese erscheint, je näher man ihn betrachtet, desto kleiner wird er, bis er ein normaler, liebenswerter, aber einsamer Mensch ist.
Die Geschichte des Scheinriesen kann – je nach Alter – zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung führen. Während Kinder ihn direkt „als armen Kerl wahr[nehmen], mit dem man Mitleid haben muss“, der Mitgefühl erzeugt, assoziieren Erwachsene eher realitätsnah: „Für sie steht der Scheinriese für die Neigung des Menschen, sich und andere über seine wahre Bedeutung zu täuschen“.
Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Scheinriese
Der Scheinriese als Metapher für die Angst
Insoweit liegt es so nahe, diese Metapher für die Angst zu nutzen. Angst vor dem Unbekannten. Und das hat das Obergericht in Zürich erkannt und dies als wunderbares Beispiel genommen:
„Angst muss ernst genommen werden; sie zu überwinden, kostet Anstrengung und braucht auch Mut. Aber nur wer Angst aktiv
Obergericht Kanton Zürich PQ190029-O/U vom 02.09.2019
angeht, vermag sie zu überwinden, oder erkennt, dass sie unbegründet gewesen ist. Die Figur des Scheinriesen „Herr Tur Tur“ aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ veranschaulicht dieses Phänomen hervorragend:
Je weiter entfernt „Herr Tur Tur“ ist, umso bedrohlicher erscheint er; nur wer sich ihm nähert, erkennt, dass er kein Riese ist. Gino kann seine Angst vor seinem Vater nur überwinden, wenn er mit ihm in Kontakt tritt und erfährt, dass sein Vater kein Monster und kein Dämon ist und ihm keine Vorwürfe macht. Nur wenn Gino erfahren darf, dass sein Vater ein „gewöhnlicher“ Mann ist mit Stärken und Schwächen, Vorzügen und allenfalls unangenehm empfundenen Eigenheiten, wird er seinen väterlichen Anteil an seinem eigenen Wesen akzeptieren lernen.“
Ein wunderbares Beispiel, das auch als Kritik an Eltern und Juristen in Verfahren verstanden werden kann, deren Verhalten aus kleinen Dingen riesige Monster aus Kindersicht erscheinen lassen – als Scheinmonster wie Herrn Tur Tur. Nur wer die Macht hat, sich auf die Angst einzulassen und sich dem Riesen nähert, hat eine Chance zu erkennen dass hinter dem Riesen ein normaler, wenn auch einsamer Mensch steckt.
Ich habe, ehrlicherweise, nie etwas emphatischeres in einem Beschluss gelesen. Und irgendwie wundere ich mich nicht, dass es kein deutsches Gericht war, das diese Idee herangezogen hat.
Idee des Amtsgerichts Wangen
Das Amtsgericht hat die Idee des Scheinriesen adaptiert und eine „Auflage“ formuliert, dass ein Elternteil dem Kind das Buch schenkt mit der Widmung und Mitteilung, der andere Elternteil solle dies (gemeinsam mit dem Kind) vorlesen. Eine einfache, geniale und richtige Idee, die ich hier gern weitergebe in der Hoffnung, der eine oder andere von Euch zieht hieraus Vorteile für sein Verfahren.
Und natürlich ist diese Metapher nicht nur eine Hilfe bei Entfremdung, sondern bei vielen Ängsten. Wenn wir alle ein wenig über den Tellerrand blicken wollen, wird die Welt sicher besser.
2 Antworten auf „Die Angst des Kindes vor einem Elternteil“
wie wahr die Geschichte doch ist.
Ja. Könnte ebenso unsere sein. Es sollte unbedingt der Entfremdungstendenzen entgegen gewirkt werden.