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Bindung und Bindungstypen

Manchmal merkt man, dass man Richter:innen hoffnungslos überschätzt. Dies passierte unlängst am AG München, als sich in einem Beschluss ein(e) Richter:in zu Bindung äußerte wie folgt:

Der von (Name) geäußerte Wunsch keinen Kontakt mit der Mutter mehr zu wünschen entspricht auch den tatsächlichen Bindungsverhältnissen. Denn (Name) lebt nun seit ca. 7 Jahren mit Le­bensmittelpunkt beim Vater, der Umgang mit der Mutter war äußerst inkonstant.

AG München 561 F 16038/23

Offenbar gibt es in diesem Land Richter:innen, die den Begriff „Bindung“ mit „Kontakt“ gleichsetzen. „Auch zeigte sich, dass nicht die Quantität der Beziehung zu einer oder mehreren Bezugspersonen ausschlaggebend für die Entwicklung einer bestimmten Bindung ist, sondern die Qualität. Bowlby nahm an, dass die ständige Verfügbarkeit der Bindungsperson in den ersten Lebensjahren unabdingbar ist, damit das Kind eine sichere Bindung entwickeln kann. Die Entwicklung der Bindung hänge aber nicht von der ständigen Anwesenheit der Bezugsperson ab, sondern vor allem von der entwickelten Qualität der Bindung“ (Dornes: Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre,1997.)

Dieser Unwissenheit helfen wir doch gerne ab, weshalb dieser Artikel (quasi „gesponsort“ durch das AG München) entsteht. Dabei ist die „range“ des Wissens hier gar nicht so weit, der Artikel soll nur einen groben Einblick in das Thema bilden.

Bindung

Bindung (engl.: attachment) ist die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen Menschen. Das Neugeborene entwickelt eine spezielle Beziehung zu seinen Eltern oder anderen relevanten Bezugspersonen. Die Bindung veranlasst das Kleinkind, im Falle objektiv vorhandener oder subjektiv erlebter Gefahr (Bedrohung, Angst, Schmerz) Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen zu suchen und zu erhalten. Bezugspersonen bzw. Bindungspersonen sind die Erwachsenen oder älteren Personen, mit welchen das Kind den intensivsten Kontakt in seinen ersten Lebensmonaten hatte (zitiert nach Wikipedia). Bindung ist also etwas Emotionales, eine innere Tatsache, kein Faktum des aktuellen Kontaktes. Dass also Richter so etwas begrifflich gleichsetzen, was man nicht gleichsetzen kann, was aber absolutes Grund(allgemein)wissen wäre, ist selbst als intellektueller Offenbarungseid zu freundlich formuliert.

Für den, dem Fachbücher zu teuer oder zu schwer sind, empfehle ich z.B. „Big Ideas: Das Psychologie-Buch„.

Bindungstypen

In den 1970er Jahren entwickelte der englische Kinderpsychiater John Bowlby seine Bindungstheorie. Er bezeichnet als Bindungsverhalten das Verhalten des Kindes, mit dem es sich die Zuwendung einer Bezugsperson sichern möchte (z. B.: Das Kind weint, damit die Mutter bei ihm bleibt, wenn es in einer fremden Umgebung ist). (…) Fühlt sich ein Kind sicher gebunden, dann kann es die Umwelt erkunden. Fühlt es sich unsicher, so zeigt es das entsprechende Bindungsverhalten. Das bedeutet: Je besser die Qualität der Bindung ist, desto mehr ist ein Kind in der Lage, seine sichere Umwelt zu verlassen und eine ihm neue Welt zu entdecken. Dies ist auch Voraussetzung für Bildungs- und Lernprozesse. Bindung bietet Kindern Schutz und Hilfe und ist Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung. Das Bindungsverhalten ist genetisch (endogen) angelegt, benötigt jedoch Anregung und Unterstützung von außen, d. h. durch Bezugspersonen. (…)

Herder

Vier Bindungstypen nach Bowlby und Main & Salomon

Bowlby muss man also kennen und an diesen anknüpfend Mary Ainsworth. Letztere hat mit „„Strange Situation Test“ 1970–1978“ Testungen für die Bindungsmuster entwickelt. Konkret gings darum wie ein Kind reagiert, wenn es mit seiner Mutter in einem Raum ist, dann eine fremde Person dazu kommt und dann die Mutter kurz den Raum verlässt. Je nach Reaktion des Kindes geht man dann von einer sicher gebundenen Bindung, einer ängstlich-vermeidenden oder ängstlich-ambivalenten Bindung aus; seit den 90er Jahren gibt es nach Main & Salomon noch den unsicher-desorganisierten Bindungstypen.

Mehr Infos dazu hier und hier.

Hauptkritikpunkt an Bowlby

Bowlby geht von der Mutter als Hauptbezugsperson aus. Zudem geht er von einer westlich geprägten Familienkultur aus. Zudem ist der Strange Situation Test künstlich und damit nicht natürlich und verursacht Stress. All das ist methodisch-ethisch nicht richtig.

Die vier Phasen der Bindungsentwicklung

Das Vierphasenmodell der Bindungsentwicklung nach Bowlby 1969 lautet:

  1. Vorphase: bis ca. 6 Wochen
  2. Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat
  3. Eigentliche Bindung: 7./8. bis 24. Monat
  4. Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2 / 3 Jahren

Eingriffe in der 2. und 3. Phase sind daher am entscheidendsten. Nur bis zum 3. Lebensjahr ist der Bindungstyp recht einfach zu eruieren (Wikipedia aaO).

Diagnosen mit Bezug auf die Bindung

Bindungsstörungen werden im ICD 10 nicht direkt abgebildet (Wikipedia aaO), finden sich aber teilweise in Diagnosen mit Bindungsbezug (Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (F94.1), Bindungsstörung des Kindesalter mit Enthemmung (F94.2), die je auf Vernachlässigung zurückgeführt werden) und Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1), Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0) und Störungen mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F91.2)(denen bindungstheoretische Konzepte zugrunde gelegt werden).

Das alles ist nur ein erster Einblick, um vorallem Richter:innen deutlich zu machen, dass man sich fachpsychologische Kenntnisse nicht anmaßen darf (und wenn, dass man dann zumindest halbwegs richtig argumentiert) – sagt zumindest der BGH im Beschluss vom 12.03.2024, VI ZR 283/21.

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Parentifizierung immer schädlich?

Wir erleben es in vielen Gutachten: Kinder werden als parentifiziert dargestellt. Doch was ist Parentifizierung, und ist diese immer schädlich?

Was ist Parentifizierung?

Parentifizierung bezieht sich auf die Situation, wenn Kinder die Rolle von Erziehungsberechtigten oder anderen Erwachsenen übernehmen und sich um Aufgaben und emotionale Bedürfnisse kümmern statt der Eltern, wie es üblicherweise der Fall sein sollte.

  • Rollenwechsel: Die Kinder übernehmen die Rolles des Betreuers oder Beraters, der auch emotionalen Halt für seine Eltern oder Geschwister darstellt und Verantwortung übernimmt (wenn ein Kind Aufgaben übernimmt, die für sein Alter unangemessen sind).
  • Fehlen der Bedürfnisse des Kindes : Die Notwendigkeit des Kindes nach Fürsorge, Vergnügen und Unbeschwertheit wird ignoriert.
  • Langfristige Auswirkungen der Parentifizierung können zu psychischen Problemen wie Ängsten führen und Depressionssymptome hervorrufen sowie Schwierigkeiten bei Beziehlungen und ein geringes Selbstwertgefühl verursachen.
  • Instrumentelle Parentifizierung beinhaltet, dass das Kind praktische Aufgaben im Haushalt übernimmt oder sich um andere Familienmitglieder kümmert.
  • Emotionale Parentifizierung tritt auf, wenn das Kind in die Rolle des Vertrauten der Eltern schlüpft und als emotionale Stütze dient.
  • Narzissten neigen dazu ihre Kinder für emotionale Unterstützung und Bestätigung zu missbrauchen anstatt sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kümmern.

Ursachen von Parentifizierung:

  • Psychische Gesundheitsprobleme bei Eltern
  • Schwierigkeiten mit Suchtmitteln bei Eltern
  • Elterliche Trennung oder Scheidung
  • Chronische Erkrankungen innerhalb der Familie.
  • Knappheit oder Geldprobleme

Es ist von Bedeutung zu betonen, dass nicht jede Art von Unterstützung im Haushalt oder das Übernehmen von Verantwortung als Parentifizierung betrachtet werden sollte. Erst wenn die Bedürfnisse des Kinders langanhaltend vernachlässigt werden und es dazu gezwungen wird, eine Rolle zu übernehmen, die es überfordert, wird es problematisch.

Ist jede Form von Parentifizierung schädlich?

Das kann mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Erstens kommt es auf die Ausprägung, also die Intensität an, zweitens vorallem auch welche Form vorliegt. Hier muss man zwischen destruktiver Parentifizierung und adaptiver Parentifizierung unterscheiden.

Parentifizierung ist solange nicht maßgeblich schädlich für die kindliche Entwicklung, wie sie die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes nicht über die Maßen einschränkt und das Kind psychisch nicht destabilisiert.
Diese sogenannte adaptive Parentifizierung kann gelingen, wenn das Kind seine Sorgen und Ängste einer Person mitteilen kann und selbst Unterstützung erfährt.“

zitiert nach Anita Plattner u.a., Erziehungsfähigkeit kranker Eltern richtig einschätzen und fördern, 3. Auflage 2024

Positive Aspekte der Parentifizierung

Es gibt auch positive Aspekte der Parentifizierung, diese werden oft aber übergangen:

Fraglich ist jedoch, (…) ob sie unter anderen Bedingungen möglicherweise förderliche Aspekte für das Kind haben kann. Beispielhaft für eine Entwicklungsförderung sind berühmte Kinder psychisch kranker Eltern zu nennen, wie Hans-Peter Kerkerling oder René Magritte, der das bekannte und vielsagende Portrait einer Mutter und ihres Säuglings mit vertauschten Köpfen malte. (…).
Auf Seiten des Kindes kann die Parentifizierung der Herstellung von einer emotional warmherzigen und verbindlichen Beziehung zu seinem Elternteil begünstigen, sodass das Kind insofern profitiert, als dass es auf diesem Wege Nähe zu seinem Elternteil erfährt (Ohntrup et. al. 2011).

zitiert nach Anita Plattner u.a., Erziehungsfähigkeit kranker Eltern richtig einschätzen und fördern, 3. Auflage 2024

Deshalb ist es wichtig genau hinzuschauen, zu hinterfragen, Fachliteratur heranzuziehen und dem übermäßigen Verwenden von „Fachbegriffen“ ohne Substanz und ohne geklärte Anknüpfungstatsachen Einhalt zu gebieten.

@langhans.pro

Ist jede Form von Parenntifizierung schädlich und schränkt Erziehungsfaehigkeit ein – zitiert nach Plattner, Erziehungsfaehigkeit kranker Eltern richtig einschätzen und fördern – und ja, das Buch hilft auch falsche Annahmen von Krankheiten abzuwehren #kinderrechte #sorgerecht #erziehungsfaehigkeit #langhanspro

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