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Sorgerecht

Der Kindeswille

Der Kindeswille umfasst in familiengerichtlichen Verfahren die Wünsche, Bedürfnisse, Befürchtungen und Anliegen eines konkreten Kindes (vgl. Salzgeber Rn. 1100). Er ist eines der wesentlichen Kriterien, die ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten hinterfragen muss. Er ist neben psychischer Belastung von Eltern und weiteren Gefahren (Substanzmittelmissbrauch) ein wesentliches Kriterium (Salzgeber aaO).

Beachtlicher Kindeswille

Dabei muss der Wille in rechtlicher Hinsicht beachtlich sein, also auf subjektiven nachvollziehbaren Aspekten beruhen. Ernsthaft sind solche Willenskundgaben, wenn sie begründet werden oder in Anwesenheit des Elternteils, das abgelehnt wird, vorgebracht werden (OLG Düsseldorf in FamRZ 1988,1193).

Der Wille des Kindes gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Er ist Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Kindes, das diese haben (vgl. TAZ) und tritt mit zunehmendem Alter immer stärker in denn Vordergrund. Mit der Verfahrensmündigkeit einerseits ab 14 Jahren ist dies gesetzlich anerkannt (vgl. Haufe):

Das Kind, dass das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist in Verfahren, die seine Person betreffen und in denen es ein ihm nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend macht, hingegen verfahrensfähig. Davon sind die Verfahren nach § 1671 BGB erfasst, sobald der andere Elternteil der Sorgerechtsübertragung zustimmt, denn ab dann steht dem Kind das Widerspruchsrecht nach § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu. Auch Verfahren nach § 1684 Abs. 1 BGB gehören dazu (eigenes Recht des Kindes auf Umgang), nicht hingegen solche nach § 1685 oder § 1686a BGB, die nur der engen Bezugsperson bzw. dem leiblichen, nicht rechtlichen Vater, nicht aber dem Kind ein eigenes Recht auf Umgang einräumen. Gleiches gilt für Verfahren nach § 1632 Abs. 1 und 4, § 1666, § 1674 BGB. Allerdings sind Verfahren erfasst, in denen Maßnahmen nach § 1684 Abs. 4 BGB in Rede stehen. Denn auch in diesem Verfahren wird das eigene Umgangsrecht des Kindes aus § 1684 Abs. 1 BGB ggf. beschränkt und mithin geregelt, nicht anders als bei der – ebenfalls erfassten – Anordnung einer Umgangspflegschaft nach § 1684 Abs. 3 S. 3 BGB. Dementsprechend sprechen die Gesetzesmaterialien von der eigenständigen Wahrnehmung „materieller“ Rechte des Kindes.

Haufe aaO

BVerfG zum Kindeswillen

Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus:

Sorgerechtsentscheidungen müssen danach den Willen des Kindes einbeziehen. Die Grundrechte des Kindes gebieten, bei der gerichtlichen Sorgerechtsregelung den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). 

BVerfG 1 BvR 1750/21 -, Rn. 1-32

Eigenständige Rechtswahrnehmung und Kindeswille

Die eigenständige Wahrnehmung der Rechte durch das Kind wie Teilnahme an der Verhandlung spielt hierbei eine wesentliche Rolle und verdeutlicht die Wichtigkeit des Willens des Kindes. Andererseits ist der Kindeswille auch Ausdruck seiner Personenbindung und Folge von Erfahrungen (Salzgeber Rn. 1101).

Umgang gegen den Willen eines Kindes kann man nicht erzwingen (OLG Brandenburg, BeckRS 2009, 29314).

Fragen zum Kindeswille

Ist der Kindeswille zu berücksichtigen?

Der Kindeswille ist zu berücksichtigen, soweit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.

Darf das Kind aufgrund seines Kindeswillens Sorgerechtsentscheidungen treffen?

Entscheidungen treffen Eltern, nicht Kinder. Diese den Kindern aufzuerlegen würde die Kinder unnötig belasten und diesen daher Schaden zufügen.

Ab welchem Alter ist ein Kindeswille stets beachtbar?

Es gibt keine gesetzlichen oder psychologischen starren Altersgrenzen. Es kommt auf den Einzelfall an.

Ab welchem Alter kommt dem Kindeswille eine stärkere Bedeutung zu?

Ab 8 bis 12 Jahren hat die Rechtsprechung für den Kindeswillen eine stärkere Bedeutung zugebilligt, z.B. OLG Düsseldorf FamRZ 1999, 950, OLG Brandenburg FamRZ 2011, 121 , 2008, 1472, 2015, 1304, OLG Hamm NZFam 2016, 765

Ist der Kindeswille manipulierbar?

Grundsätzlich ja, indem Eigeninteressen der Eltern durchzusetzen versucht werden.

Lügen Kinder häufiger oder sind diese einfach zu manipulieren?

Hierfür gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse (vgl. Salzgeber Rn. 1103).

Haben auch kleine Kinder einen Willen?

Auch drei- bis vierjährige haben einen eigenen Willen. Diese können einen stabilen Willen haben, der aber unzuverlässiger und umgebungsabhängiger ist als bei älteren Kindern.

Wie erkennt man einen manipulierten Kindeswillen?

Ein manipulierter Kindeswille ist ein Wille, bei dem Eltern die Stimme des Kindes nutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, entweder dass eigene Aussagen in das Kind gelegt werden oder dass ehrliche Äußerungen des Kindes verhindert, überwacht und kontrolliert werden (Salzgeber aaO).

Ein beeinflusster Kindeswille gibt also nicht mehr den Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes des Kindes und eigene Erfahrungen des Kindes wieder, sondern aufgrund eigensüchtiger Einflussnahme von Verwandten entstandene Aussagen.

Auch ein manipulierter Wille ist beachtlich.

BVerfG FamRZ 2001, 1057

Manipulierte Kindeswillen zu erkennen ist dabei Aufgabe des familienpsychologischen Gutachtens. Aber auch der Verfahrensbeistand soll den Willen des Kindes eruieren und diesem vor Gericht Geltung bringen. Wenn der Wille allerdings nicht mehr die tatsächlichen Realitäten von Bindung und mehr wiedergibt, kann ein manipulierter Wille unbeachtlich werden.

Wann ist der Wille eines Kindes beachtlich?

Der Wille des Kindes ist immer beachtlich, wenn das Kind die eigene Situation erkennt und trotz äußerer Einflüsse eine eigene Meinung bilden kann (Salzgeber Rn. 1107).

Das Vorliegen eines kindlichen Willens ergibt sich aus den folgenden Kriterien:

  • Zielorientierung, also Absicht etwas zu erreichen, einen Zielzustand
  • Nachdrücklich und beharrliche, entschlossene Entschiedenheit
  • Stabilität und Konstanz
  • Autonome Entscheidung

Hierzu mehr in Salzgeber Rn. 1107. Die obigen Ausführungen finden sich hierin wieder. Denn eine Zielorientierung liegt nicht vor, wenn eine Begründung nicht gegeben werden kann. Autonomie liegt nicht vor, wenn äußere Umstände die Situation beeinflussen (Eltern, Heim usw.).

Dabei ist gerade im Hinblick auf Nachdrücklichkeit und Stabilität wichtig, dass man sich rechzeitig um die Dokumentation des Kindeswillens kümmert. In Heimunterbringungen wird nicht jeder Wille weitergeleitet, den ein Kind äußert.

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Sorgerecht

Geschwisterkinder trennen

In staatlicher Obhut kommt es immer wieder vor, Geschwisterkinder zu trennen. Was viele Ämter und Gerichte nicht wissen: Das widerspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Wortlaut Art. 8 EMRK und Eingriffe hierin

Art. 8 „Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ lautet in Absatz 1:

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

Art. 8 EMRK

Unstreitig wird bei gerichtlichen Maßnahmen oder bei Inobhutnahmen hierin eingegriffen (vgl. Johansen gegen Norwegen, Urteil von 1996). Es muss immer auf den Einzelfall abgestellt werden, insbesondere müssen aber immer die Interessen des Kindes berücksichtigt sein (vgl. Wetjen u.a. gegen Deutschland, Urteil vom 2018). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt insoweit den Behörden einen weiten Spielraum (vgl. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK), spätere Eingriffe nach dem Erstkontakt sind hingegen schwerer zu bewerten.

Verbot, familiäre Beziehungen faktisch zu verunmöglichen

Aus Art. 8 EMRK ist daher nicht nur die Pflicht des Staates, eine Zusammenführung der Familien durch Rückführung zu fördern, zu sehen (vgl. Jansen gegen Norwegen). Dies ergibt sich vorallem aus dem Fall Olsson gegen Schweden.

Insbesondere kann zwar eine Herausnahme gerechtfertigt sein und eine Entscheidung eines Gerichtes zulässig und angemessen:

Demzufolge kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der angefochtenen Entscheidung „ausreichende“ Gründe zugrunde liegen; in Anbetracht des ihnen zustehenden Beurteilungsspielraums waren die schwedischen Behörden zu der Annahme berechtigt, dass es notwenig war, die Kinder in Obhut zu nehmen, insbesondere nachdem vorbeugende Maßnahmen sich als nicht erfolgreich erwiesen hatten.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 74

Dies bedeutet aber nicht, dass nicht durch die weiteren Maßnahmen das Kind in seinen Rechten verletzt wird. Kurz hat das der EGMR formuliert wie folgt:

Im Ergebnis verletzt die Durchführung der Entscheidung, die Kinder in
Obhut zu nehmen, Art. 8 – nicht jedoch diese Entscheidung selbst und auch nicht die Tatsache, dass sie nicht aufgehoben wurde.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 84

Durchführung der Entscheidung bei Geschwisterkinder Trennung verletzt EMRK

Doch die Art, wie die Entscheidung umgesetzt wurde, insbesondere Kinder zu trennen, verletzt Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):

Nach Auffassung der Bf. gab auch die Durchführung der Entscheidung über die Obhut Anlass zu einer Verletzung von Art. 8. Sie berufen sich u.a.
auf die Unterbringung der Kinder getrennt und in großer Entfernung voneinander und von ihren Eltern, auf die Einschränkungen und Bedingungen für Besuche und die Verhältnisse in den Familien, in denen die Kinder untergebracht waren.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 78

Dem tritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit deutlichen Worten entgegen:

Die erwähnte Entscheidung musste deshalb als vorläufige und, sobald es die Umstände erlaubten, aufzuhebende Maßnahme angesehen werden; und jeder zu ihrer Durchführung unternommene Schritt hatte im Einklang mit dem letztendlichen Ziel der Zusammenführung der Familie Olsson zu stehen.

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 81

Rückführung ist oberstes Ziel.


Tatsächlich wirkten die von den schwedischen Behörden getroffenen Anordnungen einem derartigen Ziel entgegen. Die Bindungen zwischen den Mitgliedern einer Familie und die Aussichten für ihre erfolgreiche Zusammenführung werden notgedrungen schwächer werden, wenn ihrem leichten und regelmäßigen Zugang zueinander Hindernisse in den Weg gelegt werden. Allein schon die Unterbringung von Helena und Thomas in einer so großen Entfernung von ihren Eltern und von Stefan (s.o. Ziff. 18) muss indessen die Möglichkeit von Kontakten untereinander ungünstig beeinflusst haben. Diese Situation wurde durch die Einschränkungen, welche die Behörden dem elterlichen Umgang auferlegten, verschlimmert

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 81

Solange es also eine Chance auf Rückführung gibt, muss dies vom Staat genutzt werden und unterstützt werden. Beschränkungen im Umgang und vorallem Geschwistertrennung dürfen daher in der Regel nicht erfolgen. Nur bei wichtigen Gründen kann etwas anderes gelten, was aber nicht bereits bei besonderem Bedarf gilt:

Ebenso trifft es zu, dass Stefan besondere Bedürfnisse hatte, jedoch genügt dieses nicht, um die Entfernung, welche ihn von den anderen beiden Kindern trennte, zu rechtfertigen

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 81

Kein Verschulden Behörde bei Geschwistertrennung nötig

Dabei, das erwähnt das Gericht explicit, ist es egal ob die Behörde in Gutem Glauben handelte oder nicht.

Das reicht aber nicht aus, um eine Maßnahme nach Art. 8 der EMRK „notwendig“ erscheinen zu lassen:

Diese Tatsache genügt indessen nicht, eine Maßnahme „notwendig“ i.S.d. Konvention werden zu lassen

Entscheidung Olsson gegen Schweden, Rn. 82

Fazit: Geschwistertrennung ist unzulässig

Daher ist die Trennung von Geschwisterkindern nach der überzeugenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Regel unzulässig. Jede staatliche Maßnahme muss notwendig sein und darf die mögliche Rückführung und den Zusammenhalt der Familie nicht stören. Meiner Auffassung nach gehört daher per se die Geschwistertrennung bei staatlichen Maßnahmen verboten.

Wir lernen daraus, dass selbst bei begründeten Herausnahmen eine Verletzung der Menschenrechte durch die Art der Durchführung vorliegen kann:

mit zwölf Stimmen gegen drei, dass die Art und Weise, wie die besagte Entscheidung durchgeführt wurde, eine Verletzung von Art. 8 darstellt;

EGMR-E 4, 18

Hierfür wurde eine Entschädigung von über 20.000 € für die Eltern zu bezahlen war. Leider wurde hier versäumt, das immaterielle Leid in deutlichen Zahlen auszudrücken. Aber dafür bleiben im Zweifel ja Amtshaftungsklagen über.

Geschwisterkindertrennung verbieten

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