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Gutachten

Keine Pflicht, Sachverständigengutachten einzuholen

Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist das Familiengericht nicht gezwungen, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Dies hat das BVerfG in der Entscheidung 1 BvR 1750/21 nochmals deutlich gemacht.

Keine Pflicht Sachverständigengutachten einzuholen

Konkret führt das BVerfG in Fortführung der bisherigen Rechtsprechung aus:

Die Fachgerichte sind demnach verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).

BVerfG aaO

Ohne Gutachten mehr Beweiserhebung

Doch hat dieses Vorgehen für das Gericht auch Nachteile. Denn wenn es kein Gutachten einholt, muss es anderweitig dafür sorgen, dass es zuverlässige Entscheidungsgrundlagen gibt:

Wenn sie von der Beiziehung eines Sachverständigen absehen, müssen sie anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfGK 9, 274 <279>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. April 2021 – 1 BvR 1839/20 -, Rn. 20 m.w.N.).

BVerfG aaO

Abweichen vom familienpsychologischen Gutachten

Doch auch hiermit hat es noch kein Ende: Denn selbst wenn man ein Gutachten einholt, kann man als Richter davon abweichen. Doch auch hier ist der Preis ein mehr an Arbeit und Begründung:

Die Verfassung schließt zudem nicht aus, dass das Fachgericht im Einzelfall von den fachkundigen Feststellungen und Wertungen gerichtlich bestellter Sachverständiger abweicht. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer abweichenden Einschätzung und Bewertung von Art und Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung oder der dem Kindeswohl am besten entsprechenden Entscheidung gelangt. Es muss dann aber eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen. Ein Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der Sachverständigen bedarf daher eingehender Begründung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. April 2021 – 1 BvR 1839/20 -, Rn. 20 m.w.N.).

BVerfG aaO

Konklusion

Selbst wenn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe es hergibt, dass man kein Gutachten einholt oder dass vom Ergebnis desselben abgewichen wird, führt dies nur zu einem mehr an Arbeit für den Familienrichter. Er hat also gerade keine Motivation, auf ein Gutachten zu verzichten oder hiervon abzuweichen. Die ausführliche Begründung braucht es für ein dem Gutachter folgen nicht, nur wenn man abweicht.

Die Entscheidung des BVerfG ist daher wichtig und richtig, sie eröffnet den Richtern aber auch den Weg in die Bequemlichkeit.

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Sorgerecht

Der Kindeswille

Der Kindeswille umfasst in familiengerichtlichen Verfahren die Wünsche, Bedürfnisse, Befürchtungen und Anliegen eines konkreten Kindes (vgl. Salzgeber Rn. 1100). Er ist eines der wesentlichen Kriterien, die ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten hinterfragen muss. Er ist neben psychischer Belastung von Eltern und weiteren Gefahren (Substanzmittelmissbrauch) ein wesentliches Kriterium (Salzgeber aaO).

Beachtlicher Kindeswille

Dabei muss der Wille in rechtlicher Hinsicht beachtlich sein, also auf subjektiven nachvollziehbaren Aspekten beruhen. Ernsthaft sind solche Willenskundgaben, wenn sie begründet werden oder in Anwesenheit des Elternteils, das abgelehnt wird, vorgebracht werden (OLG Düsseldorf in FamRZ 1988,1193).

Der Wille des Kindes gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Er ist Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Kindes, das diese haben (vgl. TAZ) und tritt mit zunehmendem Alter immer stärker in denn Vordergrund. Mit der Verfahrensmündigkeit einerseits ab 14 Jahren ist dies gesetzlich anerkannt (vgl. Haufe):

Das Kind, dass das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist in Verfahren, die seine Person betreffen und in denen es ein ihm nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend macht, hingegen verfahrensfähig. Davon sind die Verfahren nach § 1671 BGB erfasst, sobald der andere Elternteil der Sorgerechtsübertragung zustimmt, denn ab dann steht dem Kind das Widerspruchsrecht nach § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu. Auch Verfahren nach § 1684 Abs. 1 BGB gehören dazu (eigenes Recht des Kindes auf Umgang), nicht hingegen solche nach § 1685 oder § 1686a BGB, die nur der engen Bezugsperson bzw. dem leiblichen, nicht rechtlichen Vater, nicht aber dem Kind ein eigenes Recht auf Umgang einräumen. Gleiches gilt für Verfahren nach § 1632 Abs. 1 und 4, § 1666, § 1674 BGB. Allerdings sind Verfahren erfasst, in denen Maßnahmen nach § 1684 Abs. 4 BGB in Rede stehen. Denn auch in diesem Verfahren wird das eigene Umgangsrecht des Kindes aus § 1684 Abs. 1 BGB ggf. beschränkt und mithin geregelt, nicht anders als bei der – ebenfalls erfassten – Anordnung einer Umgangspflegschaft nach § 1684 Abs. 3 S. 3 BGB. Dementsprechend sprechen die Gesetzesmaterialien von der eigenständigen Wahrnehmung „materieller“ Rechte des Kindes.

Haufe aaO

BVerfG zum Kindeswillen

Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus:

Sorgerechtsentscheidungen müssen danach den Willen des Kindes einbeziehen. Die Grundrechte des Kindes gebieten, bei der gerichtlichen Sorgerechtsregelung den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). 

BVerfG 1 BvR 1750/21 -, Rn. 1-32

Eigenständige Rechtswahrnehmung und Kindeswille

Die eigenständige Wahrnehmung der Rechte durch das Kind wie Teilnahme an der Verhandlung spielt hierbei eine wesentliche Rolle und verdeutlicht die Wichtigkeit des Willens des Kindes. Andererseits ist der Kindeswille auch Ausdruck seiner Personenbindung und Folge von Erfahrungen (Salzgeber Rn. 1101).

Umgang gegen den Willen eines Kindes kann man nicht erzwingen (OLG Brandenburg, BeckRS 2009, 29314).

Fragen zum Kindeswille

Ist der Kindeswille zu berücksichtigen?

Der Kindeswille ist zu berücksichtigen, soweit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.

Darf das Kind aufgrund seines Kindeswillens Sorgerechtsentscheidungen treffen?

Entscheidungen treffen Eltern, nicht Kinder. Diese den Kindern aufzuerlegen würde die Kinder unnötig belasten und diesen daher Schaden zufügen.

Ab welchem Alter ist ein Kindeswille stets beachtbar?

Es gibt keine gesetzlichen oder psychologischen starren Altersgrenzen. Es kommt auf den Einzelfall an.

Ab welchem Alter kommt dem Kindeswille eine stärkere Bedeutung zu?

Ab 8 bis 12 Jahren hat die Rechtsprechung für den Kindeswillen eine stärkere Bedeutung zugebilligt, z.B. OLG Düsseldorf FamRZ 1999, 950, OLG Brandenburg FamRZ 2011, 121 , 2008, 1472, 2015, 1304, OLG Hamm NZFam 2016, 765

Ist der Kindeswille manipulierbar?

Grundsätzlich ja, indem Eigeninteressen der Eltern durchzusetzen versucht werden.

Lügen Kinder häufiger oder sind diese einfach zu manipulieren?

Hierfür gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse (vgl. Salzgeber Rn. 1103).

Haben auch kleine Kinder einen Willen?

Auch drei- bis vierjährige haben einen eigenen Willen. Diese können einen stabilen Willen haben, der aber unzuverlässiger und umgebungsabhängiger ist als bei älteren Kindern.

Wie erkennt man einen manipulierten Kindeswillen?

Ein manipulierter Kindeswille ist ein Wille, bei dem Eltern die Stimme des Kindes nutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, entweder dass eigene Aussagen in das Kind gelegt werden oder dass ehrliche Äußerungen des Kindes verhindert, überwacht und kontrolliert werden (Salzgeber aaO).

Ein beeinflusster Kindeswille gibt also nicht mehr den Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes des Kindes und eigene Erfahrungen des Kindes wieder, sondern aufgrund eigensüchtiger Einflussnahme von Verwandten entstandene Aussagen.

Auch ein manipulierter Wille ist beachtlich.

BVerfG FamRZ 2001, 1057

Manipulierte Kindeswillen zu erkennen ist dabei Aufgabe des familienpsychologischen Gutachtens. Aber auch der Verfahrensbeistand soll den Willen des Kindes eruieren und diesem vor Gericht Geltung bringen. Wenn der Wille allerdings nicht mehr die tatsächlichen Realitäten von Bindung und mehr wiedergibt, kann ein manipulierter Wille unbeachtlich werden.

Wann ist der Wille eines Kindes beachtlich?

Der Wille des Kindes ist immer beachtlich, wenn das Kind die eigene Situation erkennt und trotz äußerer Einflüsse eine eigene Meinung bilden kann (Salzgeber Rn. 1107).

Das Vorliegen eines kindlichen Willens ergibt sich aus den folgenden Kriterien:

  • Zielorientierung, also Absicht etwas zu erreichen, einen Zielzustand
  • Nachdrücklich und beharrliche, entschlossene Entschiedenheit
  • Stabilität und Konstanz
  • Autonome Entscheidung

Hierzu mehr in Salzgeber Rn. 1107. Die obigen Ausführungen finden sich hierin wieder. Denn eine Zielorientierung liegt nicht vor, wenn eine Begründung nicht gegeben werden kann. Autonomie liegt nicht vor, wenn äußere Umstände die Situation beeinflussen (Eltern, Heim usw.).

Dabei ist gerade im Hinblick auf Nachdrücklichkeit und Stabilität wichtig, dass man sich rechzeitig um die Dokumentation des Kindeswillens kümmert. In Heimunterbringungen wird nicht jeder Wille weitergeleitet, den ein Kind äußert.

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